Juni 2015 - Ausgabe 170
Herr D.
Der Herr D. fern der See von Hans W. Korfmann |
Der Herr D. war an der Ostsee gewesen, zwischen lauter deutschen Urlaubern, die auch in den Ferien schon morgens um sieben in weißen Socken und Sandalen beim Bäcker anstanden und sich auf überfüllten Campingplätzen als lustige Individualisten empfanden, wenn sie vor ihrem Zelt die ausgedienten Flaggen ihrer alten Heimat hissten. Die eingezäunten Ferienlager an der Ostsee erschienen dem Herrn D. wie die letzten Reservate der DDR, die letzten Territorien einer verlorenen Republik. Nach einer Woche Ostdeutschland war er froh, wieder westdeutschen Boden zu betreten. Sogar der verschwiegene Berliner Busfahrer, der keinem seiner Fahrgäste auch nur einen Blick schenkte, erschien dem Urlauber angenehmer als der Chauffeur in Warnemünde, der ihn augenblicklich als ortsunkundigen Wessi enttarnte, nur weil er gefragt hatte, wie weit es noch sei von der Haltestelle bis zum Strand. Aber schon in der hundert Meter langen Warteschlange vor dem Prinzenbad änderte der Herr D. seine Meinung. Die Stimmung war ausgesprochen schlecht, und die neuen Eintrittspreise hoben sie auch nicht sonderlich. »Da muss man doch drei mal überlegen, ob man ins Schwimmbad geht mit drei Kindern. Da bin ich doch gleich 30 Euro los. Ohne Pommes und Eis! Bei komm ich damit bis Nizza.« Männer holten die erste Büchse aus der Badetasche, Kinder zogen ihre Mütter am Ärmel und stellten die immer gleiche Frage: »Wie lange noch?«. Der Herr D. kam zu dem Schluss, dass einige der »sehr verehrten Badegäste« schon länger warteten. »Früher«, meinte ein älterer Herr, »da war schon um sechse offen. Da konnte jeder vor der Arbeit schnell noch mal rinhüppen!« - »Was willste machen, wenn die unsere Bäder einfach verscherbeln!« - »Ach, das wär sowieso teurer geworden«, beruhigte ein Dicker. »Vorige Woche ist der Kalle gestorben. Der kann jetzt gar nicht mehr baden! So musste das sehen!« Auch vor dem Imbiss gaben die Berliner, die für ihr Schultheiss mit Pommes und Bouletten anstanden, kein besseres Bild ab als die Warnemünder. Gut gebräunte Arbeitslose, die sich zum Ermäßigungstarif abkühlen durften, beherrschten das Terrain, unterstützt von tätowierten Frauen in viel zu knappen Bikinis, an denen sie ständig herumzupften, um noch mehr zu zeigen, als sie ohnehin schon zeigten. Beobachtet wurden sie von frauenlosen, ewig hungrigen Sonnenbrillenträgern und sportlich aussehenden Türkenjungs, die ihr Handtuch lässig wie Weltmeister über der Schulter trugen, und gegen die auch gestandene Kreuzberger Bademeister mit beeindruckenden Wollknäueln auf der Brust keine Chance hätten. Als eines dieser aufgeregten, eisschleckenden, ständig blutenden Kinder den Herrn D. mit Cola bekleckerte, schimpfte er: »Kannst du nicht aufpassen!« Da sagte eine Bikiniträgerin: »Sie sind ja noch spießiger als diese Ossis von der Ostsee!« • |