Juli 2015 - Ausgabe 171
Geschichten & Geschichte
Die Ausstellung im Kreuzbergermuseum von Ina Winkler |
1980 aber beschloss man, auch die Historie des Vorstadt-und Arbeiterviertels Kreuzberg aufzuarbeiten. Die Idee der Gründung eines »Kreuzbergmuseums für Stadtentwicklung und Sozialgeschichte« kam auf. In einer Reihe kleiner Ausstellungen sollte die Geschichte eines traditionellen Arbeiterviertels dargestellt werden, die bislang »nicht als museumswürdig« erachtet worden war. Ähnlich wie die Galerien der alternativen Kunstszene, die sich in den Siebzigerjahren zur Aufgabe gemacht hatte, die Kunst aus ihrer Isolationshaft in den großen Museen zu befreien und auf die Straße unter die Menschen zu bringen, wollte man nun auch ein Museum »mitten im Wohnbereich« und in einem typischen Kreuzberger Wohnhaus einrichten. Anders als die staatlichen Häuser sollte »ein Ort der Kommunikation der Anwohner« und ein »Ort der Diskussion« entstehen. Es sollte die Geschichte nicht anhand repräsentativer Prachtbauten und Kunstwerke gelehrt, sondern anhand von Industriegebäuden und Alltagsgegenständen erzählt werden. Es sollte nicht mehr um die großen historischen Ereignisse gehen, sondern um die kleinen persönlichen Erinnerungen, um eine subjektiv erlebte Geschichte. Man wollte eine »Geschichte von unten« vermitteln und die Bewohner sollten zu Wort kommen. Deshalb erging im Mai des Jahres 1980 der Aufruf an die Kreuzberger, ihre Wohnungen, Schubladen, Zigarrenkisten und Schuhkartons nach alten Fotografien zu durchstöbern. Das Kunstamt Kreuzberg und der Verein zur Erforschung und Darstellung der Geschichte Kreuzbergs e. V. suchten Fotografien für eine Ausstellung über das Leben auf Kreuzbergs Straßen und Plätzen, über Verkehr, historische Gebäude, Vorderhäuser und Hinterhöfe, Handwerk und Industrie, Feste und Feiern, Kinder und Schule, Betriebsausflüge und Familienfeiern usw. usw. - alles über das Leben in Kreuzberg in den vergangenen 100 Jahren. Insgesamt 600 Fotografien wurden eingesandt, von denen viele ohne diesen Aufruf vielleicht in irgendeinem Mülleimer gelandet und für immer vergessen worden wären. So aber bildeten einige von ihnen genau genommen den Grundstock zum späteren Kreuzbergmuseum. Am 31. August 1980 wurden sie in einer ersten Ausstellung des Kunstamtes am Mariannenplatz einer breiten Öffentlichkeit präsentiert. Die auf diese Weise entstandene Kollektion von »Kreuzberger Ansichten« zeichnet sich durch die Eigenart aus, dass das Wesentliche auf diesen Photografien immer in den Hintergrund tritt. Denn den Fotografen des 19. Jahrhunderts ging es in erster Linie darum, die Familie, die Feiern und die wichtigen Ereignisse eines Privatlebens festzuhalten: Hochzeiten, Taufen, Einschulungen und Einberufungen. Immer standen die Menschen im Vordergrund, zum Beispiel Erwin Engel, der mit seiner Ringerriege vom Sportclub Adler 05 in den Behrens-Festsälen in der Köpenicker Straße für den Fotografen posierte, oder der mit seinem Mandolinenverein vor dem Vereinslokal in der Muskauer Straße. Die Behrens-Säle gibt es heute ebensowenig wie das Lokal in der Muskauer Straße, sie sind längst Stadtteilgeschichte geworden, aber im Hintergrund dieser Bilder sind die verschwundenen Lokalitäten noch einmal zu sehen. Manchmal sind diese zufälligen Bilder die einzigen, die erhalten geblieben sind. Es waren vor allem die Hintergründe und die Kulissen, die die Betrachter vom Kreuzberger Geschichtsverein fesselten, und die das Kunstamt dazu bewogen, sie in die Begleitschrift zur Ausstellung »Kreuzberg damals - Bilder und Geschichten« aufzunehmen. So haben auch Alfred Fleischmanns Fotografien in dem Katalog zur Ausstellung Platz gefunden: Er ist mit seinen Kollegen im Hof der alten Reichsdruckerei »um 1920 herum« zu sehen, einige Jahre später vor dem alten Lokschuppen am Anhalter Bahnhof. So wie Erwin Engel, bekam auch Alfred Fleischmann die Gelegenheit, etwas aus seinem Leben, und damit auch eine ganz persönliche Kreuzberggeschichte zu erzählen. Alfred Fleischmann war ein Glücksfall für die Ausstellung. Denn Fleischmann hatte sich nicht nur fotografieren lassen, er hatte selbst fotografiert: Die Oberbaumbrücke mit der »Gelben« - so nannten sie die Straßenbahn damals -, die Taborkirche, in die sich die Mutter flüchtete, wenn sie Kummer hatte. Sein Wohnhaus, die Falckensteinstraße Nummer 47, das beim Einzug der Russen 1945 abbrannte. Eine Aufnahme zeigt dann den Elektromechaniker Fleischmann in der Werkstatt bei C. Lorenz, nach dem Krieg, und 1958 den glücklichen Ehemann vor der Wohnung in der Ratiborstraße mit dem Fiat 500, der viel zu klein zu sein schien für das große Nummernschild mit dem Kennzeichen BMW 645. Die Ausstellung war ein Erfolg. Andere folgten, bis 1990 in der Adalbertstraße tatsächlich das Kreuzbergmuseum eröffnet wurde. Der Titel der ersten Ausstellung war ein politisch korrekter und bezog sich auf den Straßennamen: »Der Prinz wohnt nicht mehr hier.« Gemeint war Prinz Adalbert, der der Straße einst den Namen gab, und der wohl kaum mit den Anwohnern der Achtziger harmoniert hätte. Martin Düspohl, der heutige Museumsleiter, gehörte schon zu den Initiatoren der ersten Photoausstellung. Er sorgt bis heute dafür, dass das Museum seiner ursprünglichen Idee treu bleibt: ein Ort zu sein, in dem sich Menschen treffen, um ihre Geschichten zu erzählen. Ihre eigene Kreuzberg-Geschichte. • |