Kreuzberger Chronik
Juli 2015 - Ausgabe 171

Kanzlei Hilfreich

Der Mediator


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von Kajo Frings

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Klaus verdiente sein Geld als Straßen- und Kneipenmusiker. Seine Schicht endete meistens gegen zwei Uhr nachts, wenn es kaum noch Trinkgeld gab. Dann ging er in seine Wohnung in der Schleiermacherstraße, trank ein Glas Wein, fiel ins Bett und schlief bis 12 Uhr mittags. Bis eines Tages diese Frau über ihm einzog. »Ksenia« stand an ihrem Briefkasten. Klaus warf einen Brief ein, in dem er sie bat, doch bitte nicht jeden Morgen zwischen 6 und 6.30 Uhr auf hohen Absätzen durch ihre Wohnung zu laufen. Das Haus sei hellhörig und er wache jedes Mal auf.

Ksenia las den Brief mit Stirnrunzeln. Sie war nur 1,55 groß und hatte ihrer Meinung nach das Recht, zum Ausgleich ihrer Kleinwüchsigkeit Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen. Dass man ihr dieses Grundrecht auf der Arbeitsstelle entzogen hatte, nahm sie in Kauf, denn sie arbeitete als Krankenschwester im Urbankrankenhaus, wo High Heels nicht gestattet waren. Da sie – bedingt durch ihre Körperkleine - in keiner festen Beziehung lebte, übernahm sie meistens die Nachtschichten. Danach ging sie in ihre Wohnung. Freilich nicht, ohne noch im Krankenhaus die hässlichen Arbeitsturnschuhe durch Pleaser Sexy 30 Stiletto Riemchen ersetzt zu haben. Zuhause genoss sie das Durchschreiten ihrer Wohnung, machte sich noch einen Kaffee, las den Tagesspiegel, zog dann endlich die Schuhe aus und ging zu Bett.

Auf den Brief ihres Untermieters antwortete sie nicht. Sie suchte sich einen Anwalt. Auch Klaus suchte sich einen Anwalt, und so trafen sie sich im Wartezimmer des Anwalts Hilfreich zum ersten Mal persönlich. Ksenia mit ihren Stiletos, und Klaus mit seinem Kater von letzter Nacht.

Jens Hilfreich wurde auf die beiden aufmerksam, als er aus dem Mandantenzimmer Geräusche vernahm, die nach dem Angriff einer mongolischen Reiterhorde klangen. Ein Mann brüllte Schimpfwörter, wovon »Standgebläse« noch das netteste war. Nach kurzem Gespräch war klar: Egal, welches Mandat er annehmen würde, er würde den Falschen vertreten. Also versuchte er sich als Mediator, etwa nach einer Stunde war der Vergleich perfekt: Klaus verzichtete auf eine Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung, und Ksenia versprach, sich zwischen 23 und 9 Uhr nur noch ohne Schuhwerk durch die Wohnung zu bewegen. Der Vergleich wurde zu Papier gebracht und unterschrieben.

Ksenia hielt sich gewissenhaft an die Verabredungen: Sie zog jeden Morgen, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, die Schuhe aus, schlich auf Strümpfen durch die Wohnung, frühstückte und ging zu Bett. Allerdings nicht, ohne vorher mit den Stiletos solange an den Rippen des Heizkörpers entlang zu fahren, bis sie aus der Wohnung unter ihr einen gutturalen Verzweiflungsschrei vernahm.

Jens Hilfreich kaufte von seinem Beratungshilfehonorar Ohrstöpsel für Klaus. Als Mediator versuchte er sich nicht mehr.•


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