Februar 2015 - Ausgabe 166
Kreuzberger
Hildegard Donzyk
von Manuela Krause
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Es ist Sonntag, kurz nach zehn. Hildegard Donzyk sitzt im Café Saz in der Kreuzbergstraße, so wie fast jeden Sonntag. Sie ist mit ihren Söhnen zum Frühstück verabredet. So wie fast jeden Sonntag. Und so wie fast jeden Sonntag hat sie für jeden ihrer drei Söhne, die längst 40 oder 50 sind, einen großen Beutel Bonbons dabei: »Früher konnte ick meinen Kindern nicht viel bieten.« Jetzt holt sie das nach, wann immer sie kann. »Oskar, haste mal ein Franzbrötchen? Und für mich zwei Bier!« Schon ihr Vater hat jeden Tag zwei Bierchen getrunken. Die Tochter hält es genau so. Sie erzählt gerne von früher, denn wenn sie erzählt, leuchten ihre Augen, und alle hören zu. Auch wenn viele ihre Geschichten schon kennen. 25 Jahre lang hatte sie nebenan ihren Blumenladen. Da, wo heute »Frau Fröhlich« buntes Geschirr, Geschenkartikel und auch ein paar Blumen verkauft, hängt immer noch das alte Schild von der Blumen Hilde - als traue sich keiner, es abzuhängen. Nach so vielen Jahren. Auch auf der Straße kennt man sie und grüßt freundlich, »und dit jefällt mir.« Seit vierzig Jahren wohnt sie in der Straße. Geboren wurde sie auch nicht weit von hier, 1935 in der Nostitzstraße. Sie hat ihrem »Kiez« die Treue gehalten, nur einmal, als sie heiraten wollte, aber noch nicht volljährig und der Vater dagegen war, »bin ick abjehauen!« Aber sie hielten nicht lange aus in Moabit, bald kehrten sie heim, und 1956 willigte auch der Vater in die Heirat ein. Einige Jahre war das junge Paar glücklich, Ilona wurde geboren, später kamen in zweiter Ehe noch Doris, Lutz und Uwe hinzu. Und zum Schluss das Nesthäkchen Oliver. In der Nostitzstraße waren sie noch ein paar mehr gewesen, Hildegard hatte zehn Geschwister. Mit den Männern hatte sie trotzdem »nich so viel Glück, ick war vermutlich zu stark.« 1967 wurde sie zum zweiten Mal geschieden und blieb mit den Kindern allein zurück. Obwohl man der schönen Frau immer wieder den Hof machte. Mit einem ihrer Arbeitskollegen war sie noch einmal verlobt, er wollte sie auch mit fünf Kindern noch heiraten, schenkte ihr Schallplatten, versteckte 1000 Mark darin. Aber sie nahm weder das Geld noch den Mann. Dabei war »dit ein Traum von einem Mann. Ein richtjer Traummann. Aber dit war nüscht für mich. Der war viel zu jut.« Sie hätte es bequemer haben können, hätte, adrett gekleidet, lächelnd und gut frisiert, den Haushalt erledigen und nebenbei die Kinder und den Gatten verwöhnen können. Während der Gatte arbeiten ging. Aber Hildegard Donzyk zog es vor, allein zu bleiben, mit fünf Kindern in einer Ein-Zimmer-Wohnung samt Wandschrank mit Klappbett und einer Couch zum Ausziehen. Nachts verteilte sie die Morgenpost in der Obentrautstraße, der Möckernstraße und der Großbeerenstraße - »bis zum Kanal und wieder zurück.« Um sechs Uhr morgens war sie wieder zuhause, machte Frühstück für die Kinder und schickte sie in die Schule oder in den Kindergarten. Urlaub gab es für die leidenschaftliche Mutter nie. Sie hat ein Leben lang gearbeitet, hat als Leiharbeiterin mit dem Presslufthammer für die Deutschen Asphaltwerke das Straßenpflaster aufgestemmt und für die Behala am Westhafen zentnerweise Kohlesäcke geschultert; sie hat bei Kämmerer Ziegel und Klinker geladen und für Maizena im Lager gearbeitet. Und für das städtische Gartenbauamt einen Friedhof zum Kindergarten umgestaltet. Sie hätte es besser haben sollen. Aber ihr Leben verlief unplanmäßig, ihr Leben ist eher so eine Kette unzusammenhängender Zufälle. Mit 15 begann sie eine Lehre bei Feinkost Krüger in der Yorckstraße und durchlief alle Stationen, »vom Einkauf über die Lagerverwaltung bis zum Verkauf«. Wenn das Schicksal es gewollt hätte, wäre sie länger in dem Geschäft mit der feinen Kundschaft geblieben. Aber das Schicksal wollte es anders. Da der Chef sich verlobte, sollte Hildegard eine Flasche Klüsserather Bruderschaft besorgen. »Die kostete 145 Mark, dat war ne Menge Jeld damals.« Als die Verlobte der jungen Hildegard ein Glas zum Kosten reichte und diese das Glas einfach »wie nen Schnaps runterkippte«, empörte sich die zukünftige Chefin so lautstark über Hildes Geschmacklosigkeit, dass diese heulend nach hause fuhr. Als ihr Vater den frisch verlobten Krüger anderntags zur Rede stellte, kam es zum Streit zwischen den beiden, und Hildegard verlor ihren Ausbildungsplatz. Das Leben war nicht einfach in diesen prüden 60er Jahren, in denen Klatsch und Tratsch und böse Blicke noch zur Tagesordnung gehörten, wenn eine Frau fünf Kinder und keinen Mann dazu und nicht einmal eine feste Arbeit hatte. Aber das Hildeken war nicht auf den Mund gefallen, sie konnte sich wehren. Und sie konnte ihre fünf Kinder auch alleine aufziehen. Sie konnte ihrem Sohn zu Weihnachten zwar keine Eisenbahn schenken, aber immerhin einen ordentlichen Baukasten. Auch wenn sie dafür die Gans, die man ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, in der Eckkneipe gleich wieder verkaufen musste. Fast fünfzig Mark hatte der Baukasten gekostet. Da sie nicht mehr richtig zupacken konnte, musste sie sich nach einer leichteren Arbeit umsehen. Die rettende Idee kam ihr - wie so oft bei Frauen - vor dem Spiegel. Damenfrisuren waren damals ziemlich aufwendig, und Hilde Donzyk verstand etwas von diesen aufwendigen Frauenarbeiten. Sie konnte Toupieren, sie wusste, wie man Lockenwickler ordnete und wie man Dauerwellen legte. Also beschloss sie, Frisöse zu werden. Doch bei der Dame auf dem Arbeitsamt kam ihre gute Idee gar nicht gut an: »Mit 43 Frisöse? Viel zu alt!« Da sah sie bei Gromadecki, dem Blumenhändler am Mehringdamm, ein minimalistisches Blumenarrangement nach japanischer Art. Das exotische Gesteck hatte einen komplizierten Namen, Ikebana, aber im Grunde war »dit janz einfach: Eine Blume und ein Zweich...« Hilde war fasziniert. Als sie im Laden nach dem Preis fragte und die Verkäuferin »90 Mark« sagte, schluckte sie drei mal und kaufte. Das Gesteck stieß bei der Tochter auf so reizende Resonanz, dass Hildegard Donzyk beschloss: »Dit kann ick ooch!« Sie besorgt sich Fachliteratur und widmet sich dem Studium japanischer Blumensteckkunst. Kurze Zeit später wird in der Straße ein Ladengeschäft frei. Nach 25 Jahren Angestelltendasein wird sie endlich selbstständig. Ein Freund bürgt, damit die Bank ihr Kredit gewährt, dann fängt sie an, mit 7000 Mark Startkapital und einem handgeschriebenen Pappschild vor der Tür. Morgens heizt sie den Kachelofen ein, dann wartet sie in ihrem Sessel auf Kundschaft. Und den Kunden gefallen Hildes Blumengestecke, bald muss sie Kränze für Staatsbegräbnisse binden, der Senat ist bei ihr Kunde. Doch irgendwann hat sie es satt, ständig dem Geld hinterher zu laufen, und verzichtet auf die prominente Kundschaft. |