Dez. 2015/Jan. 2016 - Ausgabe 175
Kreuzberger
Buddy und der Graf
von Hans W. Korfmann
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»Hunde haben einen Vorteil: Sie können nicht lügen!« Eigentlich hatte er sich das Leben als Rentner ruhiger vorgestellt. Der »Herr Graf« , wie man den Herrn in der Heimstraße gerne grüßt, hat kaum noch Zeit. Seit er die Arbeitsjacke an den Nagel gehängt hat, ist er ständig unterwegs. Damen, denen es der buschige Schnauzbart, die sorgfältig geputzten Schuhe oder das weinrote Jackett des Berliners angetan haben und die auf die Idee kommen, sich mit ihm auf einen Kaffee treffen zu können, haben schlechte Chancen. »Wir haben noch eine Verabredung heute Abend!« , sagt der Graf. »Und wie sieht es am Montag aus?« - »Da sind wir auch verplant.« Wenn jemand besonders hartnäckig ist, dann zieht er ein zerfleddertes Notizbuch aus der Innentasche, das mit den Jahren »eine einzige Zettelwirtschaft« geworden ist, und blättert. Aber es gibt keinen einzigen Abend, an dem die beiden nicht irgendeine Verabredung hätten, der Mann und sein kleiner Hund namens Buddy. Sie sind ein unzertrennliches Paar. »Am Dienstag ist er mit Kitty verabredet, so einer kleinen spanischen Hundedame aus der Gneisenaustraße. Die hat´s ihm angetan. Da müssen wir unbedingt hin.« Der Mittwoch käme »eventuell in Frage.« Obwohl sie sich abends gegen zehn eigentlich immer mit Kadim und Jessy treffen. Jessy ist eine alte Hundebekanntschaft, und Kadim ist ein alter Kreuzberger. Zu viert stehen sie dann »bei Nerhat« vor dem Kiosk und trinken ein »Heißgetränk mit viel Bohnen und wenig Wasser« . Andere Hunde und Hundebesitzer kommen vorbei, man nickt einander zu, schüttelt Hände, beschnüffelt sich, wedelt mit dem Schwanz, jeder grüßt auf seine Art, Hund und Mensch. Nach dem Heißgetränk gehen sie eine Runde durchs Revier, die Friesen hoch, die Arndt entlang, Fidicin, Jüterboger. »Früher bin ich jeden Meter gefahren, von der Baerwald in die Halle mit dem Auto. Es war mir egal, wenn ich dreimal im Kreis fahren musste, um einen Parkplatz zu finden.« Der Graf war einmal ein leidenschaftlicher Autofahrer, und er hatte immer auch »richt´ge Autos« . Er sah sie abends beim Spaziergang glänzend im Schaufenster stehen, »den VW mit der Brezel hinten« , den Opel Senator und den Opel Commodore, den Chevrolet, den Chrysler oder den Mercedes. Dann drückte er sich eine halbe Stunde lang »die Nase platt« , rief am nächsten Morgen in der Firma an, dass er später käme, spazierte zurück zum Schaufenster, bezahlte in bar und fuhr anschließend mit dem neuen Auto zur Arbeit. Am Wochende verreiste er »zur Freundschaft in die Schweiz« oder an den Bodensee, oder auch mal kurz an die Ostsee. Irgendwohin, wo die Sonne schien, oder wo eine Freundschaft wartete. Verheiratet war der Graf auch einmal, »aber das ist lange her und hat nicht lang gedauert.« Heute sitzt keine Freundschaft auf dem Nebensitz. Heute sitzt Buddy auf der Rückbank, und in die Schweiz fahren sie auch nicht mehr. Eher in den Grunewald, oder auch mal nach Norddeich, »irgendwohin, wo es noch was zu schnüffeln gibt. Buddy tut zwar immer so, als gäbe es hier noch neue Gerüche, aber eigentlich kennt er alles schon.« Für den Fall, dass die beiden einmal ins Ausland reisen möchten, hat er für Buddy einen »Europäischen Hundepass« und im Fotogeschäft in der Bergmannstraße ein professionelles Passfoto anfertigen lassen. In der Geldbörse hat er dort, wo andere die Fotos ihrer Gattin oder ihrer Kinder haben, ein Bild von seinem Hund, und wenn andere Autos kindergerecht sind, ist seines hundegerecht. Es hat Standheizung und Klimaanlage, falls das Herrchen den Hund einmal im Auto allein lassen muss. »Ein Leben ohne Hund« , sagt der Graf in Erinnerung an Loriot, »ist möglich, aber sinnlos.« Trotz der Leidenschaft für Autos ist aus dem passionierten Fahrer ein leidenschaftlicher Fußgänger geworden. »Wenn man so die Straßen im Kiez entlangläuft, Abend für Abend, dann sieht man, wie sich alles verändert. Besonders wenn man einen Hund bei sich hat, der überall schnüffeln und stehenbleiben muss.« Und dann dauert so ein Spaziergang eben auch etwas länger. »Die Zeiten, als ich gerannt bin, sind lange vorbei. Ruhe ist mir heilig, nur Verrückte haben´s eilig.« So hat der Graf mit Buddy die Langsamkeit entdeckt. Für den kleinen Spaziergang von der Heimstraße die Bergmannstraße entlang bis zur Hasenheide braucht er eine halbe Stunde. Es ist ein grauer, regnerischer Novembernachmittag, ohne Buddy hätte er keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Während der Hund die Friedhofsmauer entlangschnüffelt, erinnert sich der Mensch an die Geschäfte, die hier waren, als er mit seinen Eltern vom Görlitzer Bahnhof in die Bergmannstraße zog. Vor 56 Jahren. Er erinnert sich, wie er mit der Linie 2 in die Wilmersdorfer Straße zur Schule fuhr. »Da war das hier ne anjesehne Jegend, überall Geschäfte. Und Tankstellen! An jeder Ecke ne Tankstelle. Und keine Straße, wo nicht ein Bäcker war. Da drüben, wo jetzt die Logopädie ist, war eine Änderungsschneiderei, daneben ein Seifenladen, und nebendran das Altberliner Gasthaus von Hermine Hölke. Und da drüben war die Bäckerei Krönert, da kamen die Leute von Steglitz, nur um Brot zu kaufen. Und dann war da der Krüger mit den dicken Prokuristengläsern und seinem Lebensmittelgeschäft, der hat den alten Leuten die Sachen in der Mittagspause noch nachhause gebracht.« Buddy interessieren die alten Geschichten nicht, die sein Herrchen da wieder erzählt, von dem großen Schrottplatz an der Baerwaldstraße, den Werkstätten und Remisen auf dem alten Garnisonsplatz, vom Palladium, dem Kino, und dem Tanzpalast, der danach kam. Buddy schnüffelt die Mauer entlang, der Graf spaziert hinterher. Nur manchmal gibt der Graf die Richtung vor. Dann gehen sie in die Riemannstraße, wo sein Herr einmal gearbeitet hat, in der »Vulkanisieranstalt Emil Gaus. Über den Lohn konnt ick nich klagen, ick hab immer alles bar bezahlt, sogar die Autos.« Aber es war keine leichte Arbeit, die schweren Reifen von den Lkws und den Baumaschinen. Mit Hammer, Keil und Montierhebel musste er den Mantel aus der Felge stemmen, »det war ne richt´ge Beschäftijung!« Ein halbes Leben hat er sich über Autoreifen gebeugt. Und jeden Abend, wenn er nachhause kam, wartete Charly auf ihn. Buddy und der Graf sind am Südstern angekommen, da, wo jetzt das thailändische Restaurant ist, und wo früher eine Kneipe mit Bühne war. Gegenüber, »wo der Fahrradladen ist, war mal Mercedes« . Und in der Blücherstraße war das Möbelgeschäft mit diesem Werbeslogan, den er so oft im Radio hörte, dass er ihn noch heute im Ohr hat: »Möbel Kunz, der wohnt, das weiß ich, in der Blücherstraße 32.« Buddy und der Graf sind auf ihrer kleinen Runde in der Gneisenaustraße angekommen, bei der Tierärztin Susanne Keil, die schon 1957 ihre Praxis in der Nummer 39 hatte. Sie war es, die das Leben des Grafen mit einem Schlag veränderte. Damals hatte er noch Frau und Großmutter zuhause, aber schon damals liebäugelte der Vulkaniseur mit den treuherzigen Vierbeinern. Eines Tages ging er in die Mittenwalder Straße, wo Menke im Hinterhof in einer Garage Hunde hielt. Es wurde erzählt, dass viele seiner Hunde nicht sehr alt wurden, aber der Graf wollte nicht länger warten und kaufte den kleinen Charly. Nach acht Tagen begann er, sich Sorgen zu machen, und als die Tierärztin in der Gneisenaustraße das kleine Wollknäuel sah, sagte sie: »Der ist viel zu früh von der Mutter weggekommen. Den bekommen Sie nur durch, wenn sie ihn abends mit zu sich ins Bett nehmen.« Charly wurde 18 Jahre alt! Ob er es war, der die kurze und kinderlose Ehe des Grafen beendete, ob mit Charly vielleicht einer zu viel im Bett und in der Küche war, bleibt eines der Geheimnisse des Grafen, der viel von den Hunden, wenig von Menschen und am wenigsten von sich selbst erzählt. Kaum einer weiß, wie er wirklich heißt. Aber jeder weiß, dass er sein Herz an Hunde verloren hat. Kadim sagt, der Graf kenne jeden Hund im Kiez mit Namen, aber der Graf wehrt ab: »Es gibt genauso viele, die ich nicht kenne.« Sicher ist nur: »Hunde haben einen Vorteil: Sie können nicht lügen.« Buddy und der Graf sind an der Ecke zur Schleiermacherstraße, gegenüber vom Backbord, wo früher »die Rosi« war, und wo er an sonnigen Tagen manchmal auf der Terrasse sitzt und eine Fassbrause mit einem Schuss Bier trinkt. Es ist fünf geworden, und es regnet noch immer. Buddy und der Graf stehen vor der Bio Company, wo früher mal Schuh-Schmolke drin war. Sie laufen bei Hammett vorbei, früher die Gardinen-Wäscherei, bis in die Arndtstraße. Manchmal legen sich die zwei nach dem Spaziergang aufs Sofa, und manchmal, wenn sie viel gelaufen sind, wacht der Graf erst wieder auf, wenn er die feuchte Hundenase an seiner Hand spürt. Wenn er die Augen öffnet und Buddy dann neben ihm steht, den Kopf auf die Seite legt und ihn vorwurfsvoll anschaut, dann weiß der Graf: Es ist Punkt halb zehn. Zeit für die letzte Runde. Foto: Dieter Peters
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