Dez. 2015/Jan. 2016 - Ausgabe 175
Herr D.
Der Herr D. an der Kasse von Hans W. Korfmann |
oderWas der Herr D. von einer Verkäuferin lernte Der Herr D. ging nicht gerne einkaufen. Besonders die Netto-Filiale in der Bergmannstraße mit ihren überdimensionalen Einkaufswagen, mit denen diese Mittelklasse-Neukreuzberger zu ihren Mittelklassewagen in die Tiefgarage rollten, war ihm ein Gräuel. »Sagen Sie, wo sind denn die Einkaufskörbe?« , fragte der Herr D. den Verkäufer, obwohl er wusste, dass die kleinen Körbchen längst aussortiert waren. In der Bergmannstraße brauchte man keine Kleinkunden mit kleinen Körbchen, in der Bergmannstraße brauchte man Kunden, die mit dem Auto in die Geschäftskunden-Tiefgarage rollten. »So was gibt es bei uns nicht!« , sagte der Verkäufer ohne die geringste Spur des Bedauerns. Der Herr D. nickte, suchte sich einen Karton und schlängelte sich in atemberaubender Geschwindigkeit zwischen den vielen Einkaufswagen hindurch, bis er am Ende beinahe alle Einkäufer erfolgreich überholt hatte und an der Kasse stand. Die Schlange an der Kasse war etwa zehn Meter lang, vor ihm warteten lauter Neukreuzbergerinnen mit künstlichen Frisuren, Mänteln von Karstadt und gut sortierten Geldbörsen mit einem Extrafach für Treueherzchen oder PAYBACK-Karten. Der Herr D. stand hinter einer Neukreuzbergerin, die offensichtlich zum ersten Mal bei Netto war. Der Herr D. hatte während der zehnminütigen Wartezeit eine gewisse Antipathie zu der Frau mit den zwei gefärbten Haarsträhnen aufgebaut, die offensichtlich mit einem LKW in der Tiefgarage vorgefahren war, so überladen war das Fließband. Der Herr D. legt Milchtüte, Butter und Blumenkohl neben den Lebensmittelberg. »Gibt es bei Ihnen keine PAYBACK-Karten?« , fragte die Lkw-Fahrerin jetzt die Verkäuferin. Die Verkäuferin antwortete, ohne von ihrem Fließband aufzuschauen. Der Herr D. nutzte die Gelegenheit, sich unbeobachtet seines Kartons zu entledigen. »Nein, so was gibt es bei uns nicht!« , antwortete die Kassiererin. »Sie können sich das Geld aber auch gleich zurückgeben lassen«, empfahl der Herr D. der Kreuzbergerin, »auch ohne diese Karten.« »Das verstehe ich nicht!« Sie lächelte den Herrn D., den sie für einen freundlichen Rentner hielt, freundlich an. »Ich verstehe das auch nicht!« , sagte der Herr D. »Erst nehmen sie einem das Geld weg, und dann geben sie es einem wieder zurück. Wozu das ganze Theater?« »Und Sie, junger Mann« , schaltete sich die Verkäuferin ein, »holen bitte den Karton, den Sie da vorne abgestellt haben, und werfen ihn in den Container an der Tür.« »Nächstens geh ich woanders einkaufen!« , sagte der Herr D. »Es gibt aber kein Woanders mehr!« Die Verkäuferin grinste. »Und es gibt Tage« , sagte der Herr D., »die kann man ersatzlos streichen aus seiner Autobiografie.« |