Kreuzberger Chronik
September 2014 - Ausgabe 162

Strassen, Häuser, Höfe

Die Kohlfurter Straße


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von Werner von Westhafen

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Sie war klein, aber fein.
Klein ist sie auch heute noch



Die Kohlfurter Straße ist eine von denen, die man schnell übersieht. Sie führt in einem schrägen Winkel zwischen der Uferstraße am Landwehrkanal und der Kottbusser Straße nur einige hundert Meter bis zum Wassertorplatz. Früher war das Sträßchen die Verbindung zwischen der Luisenstadt und Britz, weshalb es zunächst auch Britzer Straße hieß. Erst 1949, vier Jahre nach Beendigung des Krieges, taufte man das Sträßchen aus politischen oder nostalgischen Gründen nach einem Ort, der in der früheren deutschen Provinz Niederschlesien lag und jetzt in der Woiwodschaft Dolnoslaskie liegt und Wigliniec heißt.

Das alte Kohlfurt hatte keine größere wirtschaftliche oder kulturelle Bedeutung für die Stadt Berlin. Bedeutend war nur der Bahnhof, der nach der Einweihung der Strecke im Jahre 1846 allmählich zu einem Verkehrsknotenpunkt und Umsteigebahnhof heranwuchs, auf dem die Geleise aus Görlitz, Lubau, Hoyerswerda und Rothwasser aufeinander trafen, und von dem aus die Lausitzer Braunkohle in die rasant wachsende Großstadt an der Spree transportiert wurde. Ein Brikettwerk entstand nahe der Trasse, die hölzerne Kirche erhielt steinerne Wände, eine Arbeitersiedlung und eine Schule wurden gebaut. Bald herrschte auf dem Bahnhof ein reger Passagierbetrieb, der seinen traurigen Höhepunkt erreichte, als 1946 Tausende deutscher Flüchtlinge die Heimreise antraten. Danach wurde es still auf den Bahnsteigen Kohlfurts.

Während die Ortschaft zumindest peripher in der Geschichtsschreibung Erwähnung finden konnte, blieb die Kohlfurter Straße weitgehend unbemerkt. Lediglich in den Sechzigerjahren machte sie von sich reden, als Hertha Fiedler ihre Kleine Weltlaterne eröffnete, ein Künstlerlokal, das internationalen Ruf genoss und Bühnenstars wie Curd Jürgens und Hildegard Knef, Autoren wie Henry Miller und Günter Grass oder Künstler wie Hundertwasser anzog. Natürlich fehlten auch die berühmten Kreuzberger nicht: Der Maler Kurt Mühlenhaupt gehörte ebenso zum Stammtisch der geschäftstüchtigen Wirtin wie der Schriftsteller Günter Bruno Fuchs, der in einem Eckhaus an der Kohlfurter Straße geboren wurde. Auch der Maler Friedrich Schröder - Sonnenstern wohnte einige Jahre gleich nebenan und verbrachte ebenso wie Fuchs viele Abende bei »Busenhertha« in der berühmten Weltlaterne.

Zu einer eher traurigen Berühmtheit brachte es die »Brüderschar aus der Kohlfurter«, eine Bande kleiner Ganoven, die es regelmäßig in die Schlagzeilen der Berliner Zeitungen schaffte - bis es zu einer Schießerei mit der Polizei kam, bei der einer der Brüder sein Leben lassen musste. Die Schießerei lieferte für Wochen Gesprächsstoff in den Kneipen der Kohlfurter Straße, in denen stets ausführlich über die neuesten »Dinger« der kiezeigenen Gangster gefachsimpelt wurde. Natürlich verkehrten im »Kühlen Grund«, in der »Feuchte Welle«, im »Leuchtturm« oder im »Herkules« möglicherweise auch jene Jungs, die nachts mittels einer Kette und eines Autos Zigarettenautomaten von den Häuserwänden rund um die Admiralstraße rissen.

Doch nicht nur in den zwielichtigen Lokalen und nicht erst nach Sonnenuntergang war Leben in der Straße. Die Ecke zur Admiralstraße war ein Verkehrsknotenpunkt, ein regelrechtes Geschäftszentrum mit einer Apotheke, einem Spielwarenladen, dem Fruchthaus Südost und der obligatorischen Destille. Die Admiralstraße war schon lange eine stadtbekannte Adresse mit Läden und Handwerksbetrieben, und längst lag die Kohlfurter Straße in ihrem Schatten. Doch mit der Zeit mieteten sich auch in der Seitenstraße zahlreiche Geschäfte ein: in der Nummer 2 einen Friseursalon, in der Nummer 5 einen Blumenladen, in der 32 einen Geschirrladen, darüber hinaus eine Molkerei, einen Zigarrenladen und ein Seifengeschäft. Seit 1884 kamen über die Kohlfurter Straße täglich Hunderte von Schülern in die 106. Gemeindeschule, und einige Häuser weiter gingen schon früh am Morgen die Arbeiter einer Lampenfabrik ein und aus.

Aber dann kam der Krieg. Und nach dem Krieg kam die berüchtigte Kahlschlagsanierung. Viele Häuser wurden abgerissen, und allmählich verschwanden in der Folge auch die Kneipen und die Geschäfte in der Straße. Aus Hertha Fiedlers Kleiner Weltlaterne wurde die Kreuzberger Weltlaterne, ein griechisches Lokal mit Feta und Souvlaki. Die berühmte Künstlerkneipe zog weiter in die Nestorstraße, obwohl das Haus von der Abrissbirne verschont blieb. Das Leben zog sich zurück aus der Straße, und dort, wo einst das Großstadtleben pulsierte, an der Ecke zur Admiralstraße, steht heute der schmucklose Flachbau der Jens Nydahl Schule. Ein Bau, der ebenso in jeder anderen Stadt, an jeder anderen Ecke stehen könnte.

Davor erinnert eine winzige Verkehrsinsel an den einstigen Verkehrsknotenpunkt. Seit 1984 stehen inmitten des Kreises zwei Seefahrer, die Namensgeber der Admiralstraße und der Adalbertstraße, auf einer großen Sanduhr, die das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit symbolisieren soll, und suchen mit ihren Fernrohren vergeblich nach der alten Admiralstraße. Doch im Norden versperrt der Zementriegel eines Häuserblocks, der sich über die Straße schwingt, den Blick - im Süden das Nadelöhr einer engen Fußgängerzone. Nur ganz am Ende der Admiralstraße erinnern noch ein paar alte Häuser an die einstige Blütezeit der Straße.

Auch im Osten der Kohlfurter Straße blieben einige alte Häuser stehen. Sie wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stets paarweise, jeweils zwei Häuser auf einem Baufeld, nebeneinander errichtet. So standen sie Seite an Seite, Jahre lang, die ganze, zwölf Baufelder breite Straße entlang. Aber die beiden Seefahrer suchen nicht im Osten oder Westen nach der Vergangenheit, die Kohlfurter Straße interessiert sie nicht. Es scheint, als läge sie noch immer im Schatten der großen Admiralstraße. •

Foto: Postkarte
Um 1900 - als die Straße noch Britzer Straße hieß


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