Kreuzberger Chronik
Oktober 2014 - Ausgabe 163

Kreuzberger
Karl Rückert

Ich lasse mich durch nichts beirren


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Dittigheim hat etwa 1000 Einwohner, eine Feuerwehr und ein Schule. Es liegt ganz nah bei Tauber Bischofsheim, am Rand des Odenwaldes, im etwas biederen Baden-Württemberg. Karls Vater, der Gärtner, hatte eine Gärtnerei, Weinberge und Fässer mit Wein im Keller. »Wir brauchten nur hinuntergehen und den Zapfhahn aufdrehen«, erinnert sich Karl, der Sohn der Gärtners, dem der Wein schon damals schmeckte. Aber damals, Mitte der Sechziger, ziemlich am Anfang von Karls Geschichte, gab es auch schon etwas anderes, das Laune machte. Eines Tages stand in der Zeitung, dass man den »achtzehnjährigen Elektrikerlehrling aus dem Landkreis Tauberbischofsheim mit Haschisch erwischt« hatte.

Karl sorgte für Aufregung im Elternhaus. Und nicht nur im Haus, im ganzen Ort wusste jeder, wer dieser Lehrling gewesen war. Charly seufzte. Dittigheim war einfach zu klein für Karl, den die Freunde alle Charly nannten, weil den Leuten in der Gegend für ihre Kinder offensichtlich keine anderen Namen als Karl eingefallen waren. Jeder Dritte hieß plötzlich Karl, also mussten sie sich Spitznamen zulegen. Die Freunde hätten ihn natürlich auch Kalle oder Karli nennen könnten, aber Charly war eben ein lustiger Kerl, und der Name Chaplin war bei den Pubertierenden im Landkreis Tauber Bischofsheim noch in aller Munde. Auch im Zoom, diesem Rockclub in Frankfurt, zeigten sie für die in Deutschland stationierten Amerikaner jeden Abend Chaplinfilme. Chaplin und Walt Disney hatten ihnen schon in Vietnam das Leben erleichtern sollen. Der Lichtstreifen aber, der aus dem kleinen Projektor kam, schaffte es kaum bis zur Leinwand, so dicht waren die süßen Rauchschwaden, die aus Joints und Pfeifen aufstiegen. Auch Charly und seine Freunde waren oft in Frankfurt. Aber Frankfurt war eben zu weit weg von Tauber-Bischofsheim.

Charly dachte schon bald daran, die Hügellandschaft seiner Heimat zu verlassen. Aber da wartete noch die Bundeswehr auf ihn, und Charly war natürlich ein friedliebender Mensch. Also schluckte er ein paar Pillen, bevor er bei der Musterung antrat. Aber sie wollten den Mann mit den langen Haaren trotzdem. Dann versuchte er, zu verweigern, aber 1966 verweigerte sich auch der Staat den Verweigerern. Dann bewarb sich der junge Elektrotechniker im Ausland, bei einer Firma in der Schweiz, und diese Firma wollte ihn tatsächlich haben. Er hatte den Vertrag schon in der Tasche, als der Vater Wind von der Sache bekam und das sagte, was Väter im Odenwald und in Bayern und in Dittigheim damals immer noch gerne sagten: »Wenn du nicht zum Barras gehst, dann hast du deine Füße das letzte Mal unter meinen Tisch gestellt.« Karl sagte zum Gärtner: »OK. Aber wenn ich damit fertig bin, werde ich diese Berge hier für immer verlassen.«

Das tat er auch. Allerdings nicht, ohne vorher noch einmal die Hügellandschaft seiner Kindheit zu besuchen und im Mai des Jahres 1972 das kleine Woodstock-Revival auf einer Insel im Rhein mitzuerleben. Zu dritt – »Bruno, Yogi und icke« – fuhren sie nach Germersheim, wo die besten englischen Bands in Wohnwagen und Zelten schlafen mussten, weil es keine Hotels gab. Taste, die Strawbs, Wishbone Ash, Ekseption, Beggars Opera, Country Joe McDonald traten auf, Pink Floyd spielte am Samstag um Mitternacht, der Buddy Miles Express um 2 Uhr morgens, und die Kinks waren wieder einmal derart betrunken, dass ihr Auftritt von Buhrufen begleitet wurde. Sonst aber hatten die 100.000 Hippies drei Tage lang gute Laune, sprangen nackt in den Rhein, die Sonne schien, und es lag ein Duft über den Wiesen wie im Kinoraum des Zoom-Clubs. Die Zeitungen der Hügellandschaft schrieben, dass die Bewohner des Städtchens »ob der Invasion der Langhaarigen ihre Häuser nicht verließen.«

Das Festival in Germersheim war eine Art »Initialzündung« gewesen für den Sohn des Gärtners. Es war der Moment, in dem aus Karl endgültig Charly wurde. Als aus dem jungen Dittigheimer, der in der Feuerwehrkapelle Trompete spielte und bei Trauerzügen auf die Pauke hauen durfte, ein Rockmusiker wurde. Zwar hatte Charly schon mit 14 eine Sondererlaubnis zum gewerblichen Musizieren in der Tasche und durfte als Schlagzeuger bei »The Gentlemen« auf Tanzveranstaltungen Lieder von den Beatles, den Stones und Drafi Deutscher spielen, aber Rory Gallaghers Auftritt auf der Rheininsel hatte ihn derart beeindruckt, dass die Zeiten der Gentlemen endgültig vorüber waren.

Foto: Privat
Der Betriebsratvorzitzende mit seinem Chef







Er zog zu Freunden nach Berlin, einen Arbeitsvertrag und ein paar Klamotten in der Tasche. Auch den Namen Charly nahm er mit. Er trägt ihn heute, auch mit 64 Jahren, noch. Der Vater dagegen sagt immer noch Karl, auch mit 95 Jahren noch. Und an die langen Haare seines Sohnes hat er sich auch noch nicht richtig gewöhnen können. Sie sind noch heute schulterlang, und noch heute sieht Charly manchmal aus wie Frank Zappa. Ein bisschen britischer, ein bisschen wie ein Gentleman, wie Graham Hill vielleicht, dieser Formel-1-Weltmeister aus dem Jahre 1962, der zum »Sir« wurde.

Die 4-Zimmer-Wohnung in Reinickendorf war groß, aber der Rauch wollte auch hier nie richtig abziehen. Man schrieb das Jahr 1973, in Berlin kursierten die verrücktesten Drogen, darunter ein Heroingemisch, das als »Berliner Tinke« gehandelt wurde. In der Wohnung gingen denkwürdige Gestalten ein und aus, aber Charly konnte sich aus alledem einigermaßen heraushalten, irgendwie steckte noch der Karl in ihm, und was immer in den Kneipen in der Oranienstraße auch getrieben, erzählt, getrunken und geraucht wurde: Karl, der Sohn des Gärtners, wusste, wo die Grenze war.

Auch hinter dem Schlagzeug war Charly keiner, der viel Wirbel machte. Er liebte das schnörkellose, geradlinige Spiel, verehrte Schlagzeuger wie Steve Gadd, den Drummer von Eric Clapton, der im Crossroad Blues minutenlang den Rhythmus durchzog, diszipliniert wie ein Uhrwerk, ohne ein einziges Mal die Sticks aufwirbeln zu lassen, ohne ein einziges Break. Es war wohl eher der Karl als der Charly, der diesen Blues und diese Geschichte über einen Mann liebte, der, frei nach Goethe, an einer Kreuzung im Mississippi-Delta steht und seine Seele an den Teufel verkauft – nur, um von ihm den wahren Blues zu lernen.

Foto: Privat
Denn natürlich wollte auch Charly den wahren Blues spielen. Aber in Berlin war gerade Politrock angesagt, es war die Zeit, als Ton Steine Scherben ihre großen Auftritte hatten. Und als Wolfgang Seidel, der ehemalige Schlagzeuger der Scherben, sich ganz aus der Musik zurückzog und auch für die zweite Gruppe, in der er spielte, keine Zeit mehr hatte. Da sprang Charly ein, und auf irgendeinem dieser legendären Kreuzberger 1. Mai-Konzerte saß er dann mit Lenz auf der Bühne vor dem Bethanien und trommelte nicht mehr für ein paar Tanzpaare in Dittigheim, sondern vor Tausenden Berlinern. In den Achtzigern schwappte die »Deutsche Welle« über Berlin, aber Charly und seine Freunde ließen sie vorüberziehen. Sie wollten den echten Blues, und den echten, lauten Rock.

Da traf Charly eines Tages Kiev Connolly, der gerade aus Irland kam. Zusammen mit dem Bassisten und dem Keyboarder von Lenz, sowie einem jungen Gitarristen namens Michael Berzewski, gründeten sie die Kiev Connolly Band, spielten bald im Quasimodo, in der Eierschale, im Yorckschlösschen. Gleichzeitig gründeten sie Mitte der Achtziger eine Formation namens Blues Power. Fast dreißig Jahre lang hielt Charly der Formation die Treue.

Berlin war ein Glück für Charly, den Trompeter und Trommler aus dem Landkreis Tauberbischofsheim. Aber nicht nur für Charly, auch für Karl, den Elektrotechniker, der irgendwann von Reinickendorf nach Kreuzberg zog. In Berlin hatte er Angelika, die Frau seines Lebens, kennen gelernt. Sie ist bis heute die Frau an seiner Seite. Und in Berlin traf er eines Tages auch auf Landis&Gyr, ein Unternehmen, das sich auf Gebäudetechnik spezialisiert hat und den Ruf genießt, auch heute noch Schweizer Präzisionsarbeit abzuliefern. Karl war »noch nicht mal 30« und sah mit seiner »Mähne« noch immer wie ein Hippie aus, als man ihn zum Betriebsratsvorsitzenden einer Firma mit mehr als 600 Angestellten wählte, nur, weil er immer »so eine große Klappe hatte«.

Aber weil Karl auch immer ein bisschen Charly war, und weil in Karls Haus am Maybachufer die Chefsekretärin der Wahrheit wohnte und der Vorsitzende der Kreuzberger Sozialistischen Einheitspartei Westdeutschlands, wurde der junge Mitarbeiter öfter in die Chefetage zitiert, wo man ihm einen Artikel aus der Wahrheit vorlegte und fragte, wie diese Interna an die Öffentlichkeit gelangen konnten.
Foto: Privat
Heute hat er sein eigenes Büro am Paul-Lincke-Ufer und eine Firma mit zehn Mitarbeitern. Er ist zuständig für die »Gebäudeautomatisation« in großen Häusern, für Fahrstühle und Klimaanlagen, Heizungen und Beleuchtung, und für jene unsichtbaren Fäden, die in den Hotelzimmern des Adlon schon beim Einchecken des Gastes an der Rezeption automatisch die Vorhänge im Zimmer aufziehen, den Fernseher aus dem Schrank fahren oder die Klimaanlage einschalten. Karl Rückert hat die so genannten drei »Ü«s, er ist dreifach überprüft, hat Zutritt zum Kanzleramt und zum Bundespresseamt, und er ist zuständig für die »Koordination der Inbetriebnahme« des bereits legendären Willy Brandt Flughafens BER. Seit sechs Jahren ist einer seiner Mitarbeiter täglich auf der Baustelle, aber die Inbetriebnahme lässt auf sich warten. Diesmal sind es nicht nur die Journalisten der Wahrheit, die ständig Fragen stellen, es sind Journalisten aus aller Welt, die wissen möchten, was los ist auf der Großbaustelle.

Karl hat nie ernsthaft daran gedacht, seinen Job an den Nagel zu hängen und das Hobby zum Beruf zu machen. Nur einmal, als Ariola der Band einen Vertrag anbot, zögerte er. Aber er »hatte ja schließlich schon Familie, Frau und Kinder, einen gut bezahlten Job«. Auch die anderen drei Musiker der Blues-Formation stiegen aus, und Kiev Connolly musste sich Studiomusiker suchen, um die Platte mit den Songs von Blues Power einzuspielen. Aber das war nicht mehr die Musik, die Charly machen wollte. »Die hatten alles glattgebügelt«. Das war kein echter Blues mehr. Das war Pop, kein echter Rock.

Blues Power aber existierte auch ohne Connolly weiter. Bis vor zwei Jahren. Bis sie sich von Henri trennten. Henri Villain war der Frontmann mit der Bluesstimme. Henri fädelte jede Menge Auftritte ein, denn er war ein Techniker und tingelte mit seinen Verstärkern von Straßenfest zu Straßenfest, einige Jahre lang organisierte er sogar das Bergmannstraßenfest. Er hatte mehrere Autos, viele Frauen, nie genug Geld in der Tasche und irgendwann eine Menge Feinde. Immer wieder, wenn er mit Blues Power auf der Bühne stand, kam in der Pause jemand und wollte Geld von ihm. »Nach der Pause stand dieser Jemand dann mit uns auf der Bühne, die Stimmung war gut, das Publikum applaudierte, und die Schulden waren wieder vergessen.«

Manchmal aber kamen ein paar kräftige Jungs mit großen Motorrädern vorgefahren, dann wurde auch Henri allmählich mulmig zumute. Im Rickenbackers wollte er partout nicht mehr auftreten, sie hatten drei Termine, jedesmal sagte der Frontmann ein paar Stunden vorher ab, und die Konzerte platzten. Der Chef vom Rickenbackers verzichtete eine Weile auf weitere Engagements, aber 2012 stand Blues Power wieder auf dem Programm. Und wieder klingelte das Telefon, die Freundin rief an. Henri Villain lag mit »Verdacht auf Herzinfarkt« im Krankenhaus.

Da riefen sie Kat an. Kat Baloun, die ebenso wie Charly und Karl in dieser Jazzkneipe an der Yorckstraße zuhause ist. Die mit Charly schon so oft im Yorckschlösschen gespielt hat, und die, so wie Charly, auch schon vor vielen Jahren in die Stadt kam und hier eine zweite Heimat gefunden hat. Aber anders als Karl, der seine Trompete und die Lieder der Feuerwehrkapelle in den Bergen des Landkreises Tauberbischofsheim zurückließ, spielt die Sängerin aus den USA mit ihrer Mundharmonika immer noch den Blues der Heimat.

So ist aus »Blues Power« allmählich »Kat Baloun & Blues Power« geworden. Manchmal, wenn sie wieder einmal im Yorckschlösschen auftreten, schreiben sie einfach »Kat Balouns Power Blues« auf die Plakate. Denn sie singt ihn wirklich, diesen echten, alten Delta-Blues. Vielleicht hat sie irgendwo auf ihrem Weg nach Berlin an einer Straßenkreuzung am Mississippi ja einmal den Teufel getroffen. Irgendwann, bevor sie in einem Oktober vor zwanzig Jahren nach Berlin kam. Sie wird diesen Oktober feiern. Im Yorckschlösschen. Gleich an drei Tagen. Mit ihren vielen Freunden. Natürlich auch mit Blues Power. Charly wird den Rhythmus vorgeben, streng, ohne viele Schnörkel, mit der Exaktheit eines Technikers. •





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