Kreuzberger Chronik
November 2014 - Ausgabe 164

Reportagen, Gespräche, Interviews

Steinzeit am Südstern


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von Edith Siepmann

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Wie auf Grabmälern die Zeit vergeht

Wer die Bergmannstraße durchwandert – vom Mehring-damm über den Marheinekeplatz bis zum Südstern – der schreitet symbolisch in wenigen Minuten aller Menschen entscheidende Lebensstationen ab: Am Anfang Essen und Trinken, Dienstleistung und Konkurrenz – danach etwas Ausruhen im Grünen – und dann das Grab. Den ersten Teil der Straße beherrschen die internationalen Köche, den zweiten die lokalen Säufer und den dritten die planetarischen Bakterien, die die Kreuzberger nach Dienstschluss verspeisen und wieder ausscheiden.

Es gibt da allerdings einen Mann, der diesem Billiardenheer von zersetzenden Zerlegern die Alleinherrschaft streitig macht, und dieser Mann heißt Frank Rüdiger. Er ist 45 Jahre alt und nicht nur der Chef von Berlins ältester Steinmetzfirma, sondern er geht auch einem der ältesten Gewerbe der Welt nach. Und was wäre die Welt ohne Pyramiden, Obelisken, Tempel, Kathedralen, gotische Rathäuser und barocke Brunnen? Was wäre Leipzig ohne das Völkerschlachtdenkmal, der Chamissokiez ohne die vier träumerisch schönen Friedhöfe an seiner Grenze, und was wäre Paul Lincke ohne Nase?

Im Jahre 1810, als die Bergmannstraße noch durch Wiesen- und Ackerland führte, gab es dort, wo heute die Friedhöfe liegen, nur ein kleines, illustres Unternehmen: die »Marmorwaaren- und Grabdenkmälerfabrik Sperner«. Das bescheidene Anwesen ist mit den Steinmetzgenerationen gewachsen und modernisiert worden. Der Kran zum Transport der schweren Steine wurde so, wie man ihn heute sieht, schon um 1900 eingebaut. Die letzte Modernisierung war in den 80er Jahren die Einführung des Computers, der nicht nur die Beschriftung erleichtert, sondern auch neue Möglichkeiten der Bebilderung eröffnet – Rüdiger zeigt auf einen Grabstein mit dem Abendmahl von Leonardo da Vinci.

Frank Rüdigers Firma ist die älteste noch bestehende dieser Zunft in Berlin. 1880 gründete sein Urgroßvater ein Steinmetzgeschäft im Norden von Berlin. 1932 kaufte seine Urgroßmutter die Steinmetzfirma Albrecht, die 1883 im Norden der Stadt eröffnet worden war. Sie wird bis heute von der Familie Rüdiger weitergeführt und kümmert sich um Grabgestaltungen in ganz Berlin, darunter auch Grabmäler illustrer Toter wie Juhnke, Wussow, Kleihues, Stresemann, Menzel, Chamisso, Schleiermacher, Kleist, Mendelssohn-Bartholdy oder Bubi Scholz. Aber nicht nur an Grabsteinen setzt die Firma des Steinmetzmeisters den Meißel an, die Experten für Schwergewichte waren an der Umsetzung der Siegessäule vom Reichstag auf den Großen Stern beteiligt, sie restaurierten nach dem Krieg das schwer beschädigte Kreuzbergdenkmal, und sie gaben der Kirche auf dem Südstern ihre Treppe zurück.

Frank erblickte 1969 in der Mühlenhoffstraße das Licht Kreuzbergs und besuchte die Reinhardswaldschule. Er hatte eine glückliche Kindheit im Jahrzehnt der Schlaghosen und der tiefgezogenen Koteletten. Mit 15 begann er bei den Eltern die Lehre als Steinmetz. »Die wollten, dass ich was anderes mache, aber ich hatte Lust auf die Steine.« 1985 besteht er die Gesellenprüfung, 1993 wird er zum Steinmetz- und Bildhauermeister. Seit 16 Jahren führt er gemeinsam mit seinem Bruder den Betrieb des Vaters.

Foto: Dieter Peters
Früher meißelten und sägten noch 10 Steinmetzbetriebe in der Nähe der Friedhöfe an der Bergmannstraße, heute gibt es hier nur noch unseren.« Früher war klar: Wo eine Leiche lag, da musste auch ein Grabstein stehen. Der verkündete in goldener oder silberner Schrift auf einer Marmorplatte oder auf einem Findling den Namen und die Geburts- und Todesdaten des Bestatteten. Weitere Buchstaben ließen wissen, wie herrlich weit es der Verstorbene im Leben gebracht hatte: »Rittergutsbesitzer«, »Frisörmeister«, »Hofschlachter«... Oft kam auch ein Spruch hinzu, der entweder die Heilige Schrift zitierte oder aber den Leichnam und die Umwelt des immerwährenden Andenkens der Hinterbliebenen versicherte. Früher herrschte Andrang, heute sind die Friedhöfe meist menschenleer. »Immer weniger Angehörige zieht es zu den Gräbern, die anonymen Bestattungen nehmen zu.« Todesanzeigen werden kaum noch gedruckt, man möchte unter sich bleiben. »Tendenz Kleinhalten.« Rüdiger hebt die Schultern.

Aber die Zeiten ändern sich. Der Trend zum namenlosen Begräbnis wird technisch konterkariert. Der QR-Code kommt in Mode: die Verknüpfung realer Orte mit digitalen Welten. Der Meißel nimmt sich bei der Grabgestaltung allmählich so antiquiert aus wie das Tipp-Ex beim Mailen. »Die Leute gehen mit ihren Handys über den Friedhof, und die Toten werden kurz wieder lebendig, lachen und singen.« Wer mit Frank Rüdiger über den Friedhof geht, der benötigt kein Handy, um die Toten auferstehen zu lassen. Der Steinmetz kennt nahezu jede Grabstätte und erzählt tausend Geschichten.


Foto: Dieter Peters
Wer ahnt schon, dass Anhöhen wie der frühere Weinberg ideal für Friedhöfe sind, weil das Regenwasser ablaufen kann und die Toten in Ruhe austrocknen können? Wer entdeckte, dass Liza Minnelli in ihrem legendären Film Broadway die Liebesmauer in der Lilienthalstraße entlanglief? Wer weiß schon, dass Charlotte von Kalb, die Geliebte von Schiller, Jean Paul und anderen Titanen der Dichtkunst, an der Bergmannstraße begraben ist, und wer würde sie als »kleine durchgeknallte Person« titulieren? Und wem fiele schon ein, in dem beliebten romantischen Theologen Friedrich Schleiermacher den »Günther Jauch von früher« zu erkennen? »Was der sagte, war Trumpf.« So umspielen todgewohnter Humor und Berliner Witz die Sachlichkeit des Steinmetzmeisters.

Doch nicht nur der Steinmetz, auch die Gräberpoesie wird moderner und verlegt sich von der Metaphysik immer mehr auf den Alltag. Früher wurde die Doornkaat-Flasche als Grabstein von der Friedhofsverwaltung nicht genehmigt, auch wenn es der sehnlichste Wunsch des Abgeschiedenen gewesen war. Ebenso wenig wurde ein Zapfhahn am Grabstein eines passionierten Wirtes gestattet. Aber »jetzt geht alles, außer Reklame oder Bayern München.«

Auch die Engel, einst ständige Begleiter auf den Friedhofswegen, waren eine Zeit lang aus der Mode. »Die wollte keiner mehr haben.« Jetzt erleben sie eine Renaissance und kommen sogar preisgünstig aus dem atheistischen China. Der Steinmetz klopft einen der Himmelsboten ab und horcht. Der Bronzelook ist Schein, die weitgereisten Engel sind aus purem Blech. Ein gedengelter Kupferüberzug sorgt für die Patina, doch sie sind alle noch ganz jung und kommen alle aus der Maschine. »Allet Katalogware«, sagt der Steinmetz, ohne eine Spur von Kulturpessimismus. So isset eben.


Foto: Dieter Peters
Nicht einmal der »Grabprotz«, wie er in der Zeit nach der Reichsgründung 1871 in Mode kam, erfährt bei dem Grabgestalter eine abschätzige Bemerkung. »Wie man heute ein dickes Auto kauft, so kaufte man früher ein dickes Grab. Wer angibt, hat mehr vom Leben.« Riesengräber für Bankdirektorengattinen, eines von ihnen steht mitten auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof, werden vom Steinmetzmeister kommentarlos akzeptiert: »Der Banker hat vielen Leuten Arbeit gegeben.« Rüdiger bleibt bei der Sachlichkeit

Emotionaler ist sein Verhältnis zum Handwerk. Natürlich setzt er Maschinen ein, aber er liebt das Sägen, Schleifen und Beschriften mit der Hand. Der lebenslange Umgang mit dem Sterben kann seiner Freude am Handwerk nichts anhaben. »Man ist froh, dass es einen noch nicht selbst getroffen hat.« Auch von der Politik lässt er sich das Leben nicht vermiesen: »Ich versuche, der unpolitischste Mensch zu sein. Halte nicht viel von dem Parteiengeklüngel. Aber eigentlich bin ich eher konservativ. Wenn auch ökologisch, genau wie unser Betrieb.«

Einen Stein beschriftete Rüdiger besonders gerne: Ein Witwer lässt ein Gedicht seines verblichenen »lieben Frauchens Helga« vom Steinmetz verewigen: Es sah einmal eine Puppe / eine fallende Sternschnuppe / und dachte sich / fein - oh nein/ wie schnell kann man / gefallen sein.

Der Grabgestalter bleibt bei seiner Sachlichkeit: »Wir sind Dünger – seh‘n Se sich als Dünger!« •





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