Kreuzberger Chronik
November 2014 - Ausgabe 164

Literatur

Ricoh, Oskar und der Diebstahlstein


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von Andreas Steinhöfel

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Weit wir hier draußen standen, ballten sich über uns am Himmel immer mehr und mehr tintenschwarze Wolken zusammen. Das machte Mama nervös. Am Ende von so einem schwarzen Geballe gibt es nämlich meistens Gewitter, und für ein Gewitter war sie nicht passend angezogen. Für eine Beerdigung auch nicht.

Ich schaute über graue Grabsteine und bunte Frühlingsblumen hinweg den Hang runter, zu der hohen Backsteinmauer, die den Luisenstädtischen Friedhof zur Bergmannstraße hin begrenzt. Irgendwo hinter dieser Mauer wartete Irina mit ihrem Flitzer, um nach der Beerdigung Mama und den Bühl so schnell wie möglich zum Flughafen zu bringen. Eine Woche Urlaub über Pfingsten. Sonderangebot. Sieben Tage Knutschen auf Sri Lanka, ohne Kinder. Dieses Sri Lanka ist eine Palmen-insel irgendwo bei Indien, mit Handtüchern und Getränken von achtzehn bis zweiundzwanzig Uhr für umsonst. Das ohne Kinder war ich.

»Schlechtes Timing«, hatte Mama geseufzt, als wir den Termin fürs Begräbnis erfuhren. (...)

Jetzt pappte ihr hellgrünes Sommerkleid vor lauter Aufregungsschwitze an ihr dran wie eine zweite Haut. Das Kleid war superkurz. Vorhin in der Kapelle hatte der Pfarrer erst Mamas Beine und dann Mama selber angeguckt, als wäre sie nicht ganz dicht im Kopf, hier in so einem Fummel aufzukreuzen.

»Ich weiß, das ist nicht der richtige Aufzug für eine Beerdigung«, hatte Mama vor zwei Stunden gesagt, als sie sich im Bad die Beine rasiert und anschließend Klebchen mit kleinen Muscheln drauf auf ihre Zehennägel gepappt hatte. »Aber ich werde auf keinen Fall bei fünfunddreißig Grad im Schatten in einem schwarzen Kleid auf Sri Lanka einschweben, vielen Dank auch«(...)

In Schönefeld wollte sie nicht noch mal alle Koffer öffnen müssen, um sich umzuziehen. Sie hatte schon Ewigkeiten gebraucht, um sich heute Morgen zurecht zu machen. Für die Kälte im Flieger hatte sie ihre gemütliche Strickjacke eingepackt, das wars. Wenn sie in irgendeiner Toilette am Flughafen noch mal komplett von vorne loslegte, würde sie den Flieger verpassen.

Mama, der Bühl und ich eilten den Hang runter Richtung Bergmannstraße. Als wir den Pfarrer auf dem Weg zur Kapelle überholten, guckte er mit zusammengekniffenen Lippen auf Mamas hüpfenden Busen und schüttelte missbilligend den Kopf. Auf einem Friedhof rennt man gefälligst nicht so, sagte sein Blick, und wenn hier überhaupt was hüpfen sollte, dann höchstens die Eichhörnchen in den alten Fichten und Tannen. Vorhin, als wir hier angekommen waren, hatte ich eins herumturnen sehen. Sehr niedlich.

»Wir kommen in die Hölle«, keuchte der Bühl, der den Blick des Pfarrers bemerkt hatte.

»Aber vorher komm ich nach Sri Lanka«, schnaubte Mama.•

Andreas Steinhöfel; Rico, Oskar und der Diebstahlstein, Carlsen, ISBN: 978-3-551-55572-4


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