Kreuzberger Chronik
Juni 2014 - Ausgabe 159

Kreuzberger
Nerhat Kilic

Sehen, Verstehen, Handeln


linie

von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Cornelia Schmidt

1pixgif
Nerhat Kiliç ist ein freundlicher Mensch. Wenn er sieht, wie die Besitzerin des kleinen Cafés in der Heimstraße am Abend ihre Bänke alleine von der Straße räumen muss, überquert er die Straße und hilft. Und wenn sie ihm als Dankeschön am nächsten Morgen einen Kaffee in seinen »Heim-Getränke-Shop« bringt, bekommt sie eine Stunde später die Kaffeetasse sauber gespült und poliert wieder zurück, stets mit einem kleinen Stück Schokolade.

Es kann aber passieren, dass jemand seinen Zeitungs-, Zigaretten-, Süßigkeiten-, und Getränkeladen betritt, und Nerhat Kiliç beugt sich gerade über seine lange Bestellliste oder eine lange Zahlenreihe, und dass er nicht gleich aufblickt, wenn ein Kunde auftaucht. Sondern dass er erst noch seine Rechnung zu Ende führt oder die Bestellliste vervollständigt. Es kann auch sein, dass er erst noch diesen langen Satz aus dem Spiegelartikel zu Ende liest, in dem es um Nietzsche geht, bevor er aufblickt. Nerhat Kiliç liest gerne. Aber wenn er dann die Augen aufschlägt und dieses Lächeln auf seinem Gesicht erscheint, dann verzeihen ihm sogar jene eiligen Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit zum ersten Mal in seinem kleinen Laden stehen und nichts anderes wollen als schnell noch eine kalte Cola oder ein Päckchen Camel.

Denn in diesem Lächeln steckt alles: Die Entschuldigung für die Verzögerung, der Dank für die Geduld des Kunden, die Freude über den nächsten Umsatz, die Lust, ein paar Worte zu wechseln. »Ich komme aus einer großen Familie. Da lernt man Reden. Ich bin einfach gerne mit Menschen zusammen.«

Und die Familie Kiliç ist sehr groß. So groß, dass sie in Neukölln eine eigene Fußballmannschaft auf die Beine gestellt hat. Ausgerechnet unter dem Dachverband des Neuköllner FC Hellas tritt »Sarabi Spor« mit Spielern an, die fast alle den Namen Kiliç tragen. »Ich habe mehr als 40 Cousins und Cousinen in der Stadt. Und sieben Geschwister.« So zumindest rechnet die Mutter. Aber ganz so sicher ist man sich in der Familie nicht. Sicher ist nur, dass der Urgroßvater vier Frauen hatte, der Großvater noch drei, und dass auch der Vater von Nerhat 13 Jahre lang in Berlin nicht in einem Wohnheim lebte, wie die meisten seiner Landsleute, sondern in einer großen 4-Zimmerwohnung im Wedding. Und dass er 28 Jahre alt war, als er 1966 nach Berlin kam, und dass seine Frau und seine Kinder erst nachkamen, als die Lage in der Türkei sehr ungemütlich wurde: 1979.

Foto: Privat
Der kleine Nerhat wunderte sich damals sehr, wie klein dieses Deutschland war, von dem alle immer so großartig erzählt hatten, denn die Familie zog zuerst gar nicht nach Berlin, sondern nach Bocholt ins Ruhrgebiet, eine Stadt, die so klein war, dass sich alle Türken auf der Straße höflich begrüßten, »egal, ob man sich nun kannte oder nicht. Als ich dann nach Berlin kam und dort auch jeden grüßte, schauten die mich natürlich alle ziemlich komisch an.«

Nerhat war gerade 10 Jahre alt, als er nach Bocholt kam, er sprach kein Wort Deutsch, aber es ging ihnen gut: 1200 Mark Lohn und 1800 Mark Kindergeld reichten gut zum Leben. Aber der Vater musste hart arbeiten, »die erste Generation an Gastarbeitern, sag ich mal, die hat sich für uns kaputt geschuftet. Die dicken Autos, die die jungen Leute heute fahren, die haben unsere Väter und Großväter erwirtschaftet.«

Auch der Sohn des Einwanderers arbeitete viel. Und zuverlässig. »Fast wie ein Deutscher. Dreimal bin ich zu spät gekommen, in 16 Jahren!« 16 Jahre lang baute er Motoren in die Waschmaschinen von Bosch und Siemens ein. Tausend Stück am Tag. Er rechnete sich aus, dass er täglich 30 Tonnen hob. Das machten die Deutschen nicht so gerne. »Einmal kam ein Deutscher ans Band« und fragte, ob es hier auch »nen Fünfer pro Tonne extra« gäbe. Nerhat sagte, wenn es nen Fünfer extra gäbe, würde er jeden Tag zwei Schichten machen. »Nach der Frühstückspause war der Neue wieder verschwunden.«

Aber Nerhat stand nicht nur am Band, er saß bei Siemens auch im Betriebssrat. Aber als die Firma begann, immer mehr Stellen abzubauen, »wurde das Ganze ziemlich stressig. Und dann hab ich gemerkt, dass ich diesen Stress mit nach Hause bringe. Das wollte ich nicht. Die Familie ist mir heilig.« Und wenn Nerhat Kiliç etwas erkennt, dann handelt er. Da hält er es ganz mit Nietzsche, immer wieder zitiert er den deutschen Philosophen: »Sehen, Verstehen, Handeln!« Und er zitiert den Deutschen nicht nur. Er lebt nach Nietzsche. Er sah, verstand und handelte: Er stieg aus bei Siemens.

Und hatte wieder Zeit für die Kinder. Um mit seinem Sohn zu einem internationalen Fußballturnier nach Barcelona zu fahren. Sein Sohn stand im Tor bei All Dersim, und Eren ließ nicht viele Bälle durch, über hundert Mannschaften waren angetreten, und die Kreuzberger wurden Sechzehnte! Wahrscheinlich wäre Eren heute noch im Club, aber dann verließ Jutta den Verein. Sie war die Jugendleiterin und »wahrscheinlich die einzige Deutsche, die acht Kinder hat.« Alle im Club mochten sie. Und dann kamen neue Trainer und erklärten den Jungen anhand von Videos, wie man Fußball spielen sollte. Da hielt es auch der Sohn mit Nietzsche: Sehen, verstehen, handeln! Und stieg aus bei All Dersim.

Nerhat Kiliç war nicht nur beim Fußball dabei, sondern auch in der Schule. Er war Elternsprecher, von der 7. bis zur 11. Klasse. Bildung war in der Familie immer wichtig gewesen. »Die meisten aus meiner Familie haben studiert.« Deshalb zogen sie auch eines Tages von der Waldemarstraße in die Schöneberger Straße. Denn auf der Schule in der Manteuffelstraße, der man seine Tochter Ruya zugeteilt hatte, »da sprachen sogar die deutschen Kinder Türkisch!« Nerhat Kiliç sah, verstand und handelte, damit die Tochter ordentlich Deutsch lernte.

Foto: Privat
Aber von allein konnte auch eine nur vierköpfige Familie nicht leben. Also hat Kiliç mit seinen Brüdern am Mehringdamm ein Restaurant eröffnet. Im Floria saßen Deutsche und Türken, lasen Zeitung, tranken Bier oder Tee und aßen zu Mittag oder zu Abend. Es war eine ganz nette Gesellschaft, und auch als überall in Kreuzberg die Preise zu steigen begannen, blieb man im Floria gelassen. Doch nach 19 Jahren waren die Brüder müde. »Wir haben viel dort erlebt«, sagt Kiliç und grinst ein bisschen, wenn er an die splitternackte Frau denkt, die eines Tages hereinkam. »Ganz nackt!«

Und dann war da dieser kleine Laden in der Heimstraße. Der hatte ihm sofort gefallen. »Das ist eine wunderbare Straße, hier kennt jeder jeden, es gibt Professoren und Junkies, und alle reden sie miteinander«, stehen im Sommer abends vor der Tür und quatschen. Ein bisschen ist es wie damals, in den Siebzigern, als die Türken in warmen Sommernächten ihre Stühle auf die Straße stellten und Tee tranken und sich miteinander unterhielten, so, wie zuhause in Istanbul, Izmir oder Diyarbakir.

Foto: Cornelia Schmidt
Nerhat ist längst Berliner. Auch wenn er einmal zurück möchte ans Meer und sich selbst noch nicht sicher ist, ob er nun Türke, Kurde, Turkmene oder Berliner ist. Aber wenn er in den Sommerferien den Leuten in Izmir aus seinem Leben erzählt, dann sagt er: »Bei uns in Berlin…« Hier spielte sich sein Leben ab. Nur die Frau seines Lebens, die hat er da getroffen, wo die große Familie Kiliç herkommt: In Diyarbakir, einer Stadt, deren historisches Zentrum noch heute von einer gewaltigen Mauer umgeben ist, weit im Südosten der Türkei, im biblischen Mesopotamien, dem Land der Kurden. Vielleicht hätte er Songül auch in Berlin treffen können, am Fließband oder in dem Restaurant am Mehringdamm. Aber wenn sie arbeiten, dann denken sie an die Arbeit. Deshalb fuhren sie auch jeden Sommer in die Türkei, anfangs noch mit einem alten VW-Bus, der Vater am Steuer, die Mutter daneben, sieben Kinder dahinter zwischen Koffern voller Geschenke. Einmal, an der Grenze zur DDR, als die Insassen des VW-Busses die vielen Pässe in einem Stapel auf das kleine Fließband legten, das die Ausweise zu den Beamten beförderte, stand plötzlich alles still. »Wir mussten stundenlang warten, bis wir unsere Pässe zurückbekamen und endlich weiterfahren konnten.« Aber irgendwann hatten sie dann auch den legendären Autoput hinter sich und kamen nach Izmir. Und jedes Jahr in Izmir, im Sommer am Meer, weit weg von den Produktionshallen der Firma Siemens, sah er sie wieder, Songül, dieses Mädchen, das er aus den Augen verlor, als sie irgendwann nach Deutschland zogen. Er war zehn, sie war sechs.

Jetzt haben sie selbst zwei Kinder. Auch die meisten seiner Brüder haben zwei Kinder und brauchen keinen VW-Bus mehr, wenn sie mit der Familie in Urlaub fahren. Die Zeiten, als die Väter noch mehrere Frauen und ganze Fußballteams von Söhnen hatten, als ein Großvater es noch auf 100 Kinder und Kindeskinder bringen konnte, sind endgültig vorüber. Vielleicht hat sich Nerhat Kiliç deshalb eines Tages in den Kopf gesetzt, einen Stammbaum seiner Familie anzulegen. Immer wieder forschte er bei den Ältesten des kleinen Stammes, aber eines Tages musste er sich eingestehen, dass der Großonkel recht gehabt hatte, als er eines Tages zu Nerhat sagte: »Das schaffst du nie. Das wird kein Stammbaum, wird ein Stammwald.« •



zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg