Juli 2014 - Ausgabe 160
Geschichten & Geschichte
Die Tabagien vor dem Tor von Horst Unsold |
Die feinen Leute saßen in den Cafés in der Stadtmitte. Die anderen in Tabagien vor dem Tor. Auch bei den Trinklokalen gab es zwei Klassen. Es ist noch gar nicht lange her, da gab es an Arbeitstagen neben den großen Pausen auch die kleinen Raucherpausen, in denen man, sei es im Büro oder im Freien, friedlich zusammen saß und kleine Rauchwölkchen in die Luft pustete. Auch nach dem Feierabend, in Restaurants und Kneipen, war eine Entspannung und Erholung ohne Tabakgenuss undenkbar. Heute sind Raucherlokale auch im weltoffenen Kreuzberg eine Seltenheit. Seltener sogar als zu jener Zeit, als der Tabak noch in Apotheken als Nervengift gehandelt und der öffentliche Gebrauch missbilligt wurde. Weil aber nichts so gut zusammenpasste wie der Bier- und der Tabakgenuss, kamen die Kneipenwirte auf die Idee, kleine Tonpfeifen an ihre Gäste zu vermieten und neben Bier und Korn prisenweise auch etwas Tabak zu verkaufen. So entstanden die Tabagien, die Raucherlokale des 19. Jahrhunderts. Die feine Gesellschaft blieb diesen Lokalen fern, ohnehin lagen die meisten am südlichen Stadtrand zwischen anderen zweifelhaften Etablissements, Tanzlokalen und Destillen. Die Tabagie war ein zwielichtiger, ein »öffentlicher Ort, wo man, ohne vorhergegangene Priesterliche Erlaubniß und Einsegnung, gegen gleich baare Bezahlung mit einer weiblichen Kreatur das Privilegium des heiligen Ehestandes genießen kann«. So stand es im »Lexikon aller Anstössigkeiten und Prahlereyen, welche in denen zu Berlin in fünfzehn Bänden erschienenen sogenannten Schriften Friedrichs des Zweyten vorkommen«, der wohl humorvollsten historischen Quelle über das Berliner Leben, die bereits im Jahre 1720 »der Freyheit im Denken gewidmet« wurde. Zwar darf das Werk des angeblichen Friedrich nicht all zu wörtlich gelesen werden, doch belegen auch andere Quellen, das leicht bekleidete Mädchen zum unverzichtbaren Inventar der Tabagien gehörten. Im Dezember 1889 beschreibt Dr. August Schmidt in der Zeitschrift »Der Bär« die bunte Gesellschaft in den Volkstabagien, »die zuweilen nicht eines eigenartigen Reizes« entbehrte: »Gesellen und Handwerksburschen in Sonntagsröcken und Werktagsanzügen, wettergebräunte Fuhrleute, die kurze Pfeife im Munde haltend, Schiffer in hohen Juchtenstiefeln, sogenannte Eckensteher mit kupferroten Nasen, Hausdiener, Fabrikarbeiter und Fabrikarbeiterinnen, Nähmädchen, Handarbeiterinnen aller Art, Apfelsinenverkäuferinnen und Dirnen von nicht zweifelhaftem Rufe bewegten sich daselbst ungeniert durcheinander«. Dass auch Mädchen von zweifelhaftem Ruf in den gut geheizten Tabagien ihrem Geschäft nachgingen, belegen die Schilder einiger Etablissements am Stadtrand, die sich für etwas besseres hielten und auf Hinweistafeln »unanständigen Frauenzimmern und ebenso bekleideten Personen« den Eintritt verwehrten. Immer wieder passierte es, dass »drallen Dienstmädchen«, die am Wochenende »im Sonntagsputze« in einer der besseren Tabagien auftauchten, der Einlass verwehrt wurde, obwohl sie nichts anderes im Sinn gehabt hatten als ein Tänzchen mit einem der hübschen Offiziere. Zu viele ausgelassene Feste wurden in den Tabagien der kleinen Leute gefeiert, als dass nicht die Bürger der braven Stadtmitte neidvoll hinüberblickten, wenn die Wirte zum »Ernte-, Kirschen-, Wein- oder Rosenfest« einluden, zum »Entengreifen« und zum »Hahnenschlag«, zum »Pfannkuchentanz« oder zum »Wursttanz«. Die fleißigen Wirte der Volkstabagien veranstalteten »große Abendessen mit Schlachtmusik« und, weil man hier draußen unter freiem Himmel war, »chinesische und indianische Feuerwerke«. Im Winter kamen Marionettenspieler und Gaukler, Maskenbälle wurden veranstaltet, und wenn gar niemand Programm machte, dann sorgten die Ur-Kreuzberger selbst für Unterhaltung. Denn bei all den »Lustbarkeiten« mangelte es nicht an »Raufereien«, immer wieder »gerieten die vom Branntwein erhitzten Köpfe« aneinander, »und nicht selten machte eine allgemeine Prügelszene den Kehraus«. In den so genannten »Bürgertabagien«, die meist pünktlich um 10 Uhr abends schlossen, ging es ungleich ruhiger zu. Raufereien gab es nie, Puppenspieler und leichte Mädchen fanden keinen Zutritt in den Häusern der Stadtmitte, in denen sich der Mittelstand zum Kartenspiel und zum Politisieren traf. Zum Tanzen gingen sie im Sommer in die großen Gartenlokale, im Winter ins Café Royal Unter den Linden oder ins Imperial in der Friedrichstraße. In den Bürgertabagien in der Südstadt saß man nach getaner Arbeit am Stammtisch zusammen, trank Bier und rauchte Pfeife. »In diesen Kreisen, aus welchen alles übersprudelnde Wesen verbannt war«, durfte sich »der beleibte Wirt vertraulich« in jedes Gespräch seiner Stammgäste einmischen, der Kellner kam in einem »vom Trödler erstandenen Frack« mit dem Fidibus an den Tisch, um die frisch gestopften Pfeifenköpfe der Kartenspieler zu entzünden, die »bei gastlichem Lampenschimmer« an den Spieltischen saßen und »Whist«, »Solo« oder »Boston« spielten. Im Sommer allerdings trat »an die Stelle des Kartenspiels im Tabakdampfe des Kneipenzimmers« das Spiel auf den langen, hölzernen Kegelbahnen, die sich neben dem Haus im Garten befanden. Da frönten die braven Bürger in Hemdsärmeln einer Art Sport, der auch in den Siebzigern des 20. Jahrhunderts noch der Odem des Kleinbürgerlichen anhing. Heute ist das Kegeln bei Studenten wieder beliebt. Vielleicht wird auch das Tabakrauchen in Kreuzberg wieder salonfähig sein. • Klobbig: Ach, Sie klagen aber ooch immer, wenn Sie die Karten in die Hand nehmen... Adolf Glasbrenner: Disputationen in Tabagien und Restaurationen |