Juli 2014 - Ausgabe 160
Herr D.
Der Herr D. und die Nachbarn von Hans W. Korfmann |
Warum ein Bäcker eine Sozialeinrichtung sein kann Der Herr D. freute sich. Und zwar schon am frühen Morgen. Über den Bäcker oben an der Friesenstraße. Obwohl dieser Bäcker eigentlich viel zu viel redete für frühe Morgenstunden, und obwohl er eigentlich auch immer viel zu gute Laune hatte für diese Uhrzeit. Der Herr D. hielt die fröhliche Freundlichkeit des türkischen Brötchen-, Getränke- und Zigarettenverkäufers für eine clevere Geschäftstaktik, ähnlich wie das schweigende Lächeln der Stewardessen. Der Mann plauderte zu viel, mit jedem über jedes Thema, erklärte allen die Welt und begrüßte jeden Kunden, den er dreimal im Leben in seinem Laden gesehen hatte, mit »Nachbar!« Aber an diesem Morgen musste der Herr D. doch lachen. Der Herr D., der immer gleich sechs Brötchen kaufte, weil diese Brötchen nicht gleich nach vier Stunden wieder zu Staub zerfielen, verlangte an diesem Tag nur zwei Brötchen. Der türkische Nachbar, der dem Herrn D. bereits den Rücken und dem Brötchenkorb den Bauch zugewandt hatte, drehte sich um, sah den deutschen Nachbarn besorgt an und sagte mit langsamer, bedeutungsvoller Stimme: »Nur zwei Brötchen?!« Der Herr D. ahnte, dass der Bäcker nun entweder den baldigen Tod des Nachbarn in Folge akuter Appetitlosigkeit, den Zerfall der dreiköpfigen Familie oder gar eine gewisse Übersättigung des treuen Stammkunden von den guten Brötchen, und damit den Beginn des Ruins seiner kleinen Brötchenbäckerei vermutete. »Ok«, sagte der Herr D, »dann nehme ich drei!« Da nickte der Bäcker freundlich, packte drei Schrippen in die Papiertüte und wollte sie gerade dem Herrn D. reichen, als hinter ihnen am Tisch ein Mann schallend zu lachen begann. Der Herr D. hatte diesen Mann noch nie gesehen. »Das ist nicht etwa Geschäftstüchtigkeit!«, sagte der Herr D. zu dem Mann am Tisch, der offensichtlich gerade in den nahe gelegenen Eigenheim-Neubauten an der Schwiebusser Straße eingezogen war. »Der Bäcker ist besorgt um mich! Das ist Nachbarschaft!« Der Mann am Tisch lachte noch einmal so laut wie zuvor, und der Herr D. ahnte, dass der Mann nur deshalb seinen Kaffee bei dem türkischen Bäcker trank, weil er dem Bäcker und seinen Kunden zuschauen und zuhören wollte. Weil es bei diesem Bäcker mit seinen billigen Schrippen und seinem billigen Kaffee einfach eine bessere Unterhaltung gab als in einem der schnieken Cafés unten an der Bergmannstraße. Sogar Nachrichten konnte man bei dem Bäcker hören, der offenbar jeden Morgen die Schlagzeilen der Presse in seinem Zeitungsständer studierte, weshalb er auch zu jedem Thema etwas zu sagen hatte, egal, ob Merkel, Erdogan oder Atatürk. Es gab aber vielleicht noch einen Grund dafür, warum der neue Mann hier Kaffee trank. Er wusste, er würde hier in kürzester Zeit viele Nachbarn kennen lernen. Dieser Bäcker war ein erster Schritt zur Integration. Hier konnten Neukreuzberger selbst mit störrischen Altkreuzbergern wie dem Herrn D. noch ins Gespräch kommen. • |