Kreuzberger Chronik
August 2014 - Ausgabe 161

Geschichten & Geschichte

Oskar hat ein Loch im Kinn


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von Olaf Durkamp

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Es war eine dieser Feten, die mehrere Tage dauerten, und Oskar Huth war einer von jenen, die auch drei Tage lang blieben. Er blieb eigentlich »immer so lange, bis nichts mehr zu essen oder zu trinken da war«.

Es war der dritte Tag einer dieser Feten, und es waren kaum noch Gäste da, als Oskar Huth plötzlich verwirrt im Raum stand. Er sah nicht gut aus: Der Mann, der stets auf seine korrekte Kleidung achtete und nie ohne den korrekt gebundenen Schlips auf die Straße trat, hatte die Krawatte gelockert, der Hals und sein Hemd waren von Rotwein besudelt. Obwohl Oskar Huth eigentlich nur Schnaps trank.

Als der Gastgeber näher trat, sah er, dass es nicht Rotwein war, der Hemd und Kragen verfärbte, sondern Blut. Oskar Huth, der standfeste Trinker, taumelte und murmelte, er habe sich doch sonst nie geprügelt, er sei doch kein Unhold, er verstehe das nicht. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass er ein großes Loch im Kinn hatte. Offensichtlich war er im Flur gestolpert und hatte sich einen alten Nagel ins Kinn gerammt, der als Kleiderhaken in der Wand steckte.

»Oskar, du hast ein Loch im Hals!«

»Ach, Brüderchen, das kann doch nicht sein...«

Sie setzten ihn in einen Sessel und gaben ihm erst mal einen Schnaps. Aber die Hälfte des Schnapses lief aus dem Loch wieder raus. Dann riefen sie den »Sonntagsrussen« an. Der Sonntagsrusse war ein entfernter Bekannter, der Balalaika spielte und Russisch lernte, damit sich sein Spiel möglichst authentisch anhörte. Außerdem war er Arzt. Aber der Arzt hatte keine Lust, mitten in der Nacht einen Trinker zu verarzten. Auch Gauger, der Lebensgefährte der Nulpenwirtin, wollte sich nachts um zwei nicht an den hippokratischen Eid erinnern und riet den Freunden, ins Krankenhaus zu fahren.

Endlich erklärte sich der Mann von Valeria bereit, einen Blick auf Huth zu werfen. Sie legten den Verletzten auf den Schultheisstisch, auf dem noch der Kartoffelsalat und die Würstchen standen, der Arzt öffnete sein Köfferchen, reinigte die Wunde und sagte: »Also, Oskar, das muss ordentlich genäht werden, du musst ins Krankenhaus.«

Oskar wehrte sich mit Händen und Füßen. Er wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus. Da goss ihm der Gastgeber ein weiteres Glas Schnaps ein, und als Oskar trank und wieder die Hälfte des Schnapses durch das Loch tropfte, sagte er: »Du, Oskar, der ganze Schnaps läuft raus aus dem Loch. Du wirst nie wieder betrunken sein, wenn du dich so anstellst und das nicht ordentlich nähen lässt.«

»Meinst du wirklich, Brüderchen?« Einen kleinen Moment zögerte er noch, dann ließ er sich widerstandslos ins Krankenhaus transportieren. Die Freunde legten sich schlafen und glaubten, eine Weile auf Oskar verzichten zu müssen. Aber am nächsten Morgen klopfte es an der Tür: »Brüderchen, eine kleine Erfrischung würde mir gut tun!«

Die Sache war ihm so peinlich, dass er von allen Zeugen ein Schweigegelübde verlangte und sich zum Menjoubärtchen noch einen Gamsbart wachsen ließ , um den Beweis des Fehltritts zu verbergen. •


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