April 2014 - Ausgabe 157
Strassen, Häuser, Höfe
Die Bergmannstraße Nr. 10 von Werner von Westhafen |
Zwischen den Häusern mit der Nummer 10 und 11 klafft eine Lücke: Hier beginnt die Nostitzstraße. Das Haus in der Bergmannstraße mit der Nummer 10 ist ein großes Haus. Es liegt an der Ecke zur Nostitzstraße, die Wohnungen sind groß und hell. Jede Etage hat 14 Fenster, davon blicken jeweils nur 4 auf die Bergmannstraße hin-aus, eines blickt in einem Winkel von 45 Grad auf die Kreuzung, und die anderen 9 klettern die Nostitzstraße hinauf. Die beiden letzten Fenster in der Nostitzstraße gehören schon zum so genannten Seitenflügel, der im rechten Winkel vom Hauptgebäude abzweigt, die restlichen Fenster des Seitenflügels blicken in einen kleinen, lichtscheuen Hof. Im Erdgeschoß zogen schon zu Beginn der Geschichte des Hauses vier Läden ein. Die Geschäfte gingen so gut, dass auch in den Krisenzeiten nie Wohnungen im Erdgeschoss eingerichtet wurden. Noch heute, fast 130 Jahre später, befinden sich Geschäfte im Erdgeschoss der Nummer 10: In der Bergmannstraße ist Thomas Lefebers legendärer Plattenladen Logo, der Weinhändler Vino Grasse, eine Boutiqe und der alte Tabakwarenladen an der Ecke. Foto: Dieter Peters
Der Bauherr und erste Besitzer des Hauses hatte erfolgreich spekuliert. Schon nach wenigen Jahren konnte er das Haus an Gustav Gutsch, den Besitzer eines Frühstückscafés in der Luisenstraße, verkaufen. Auch Gutsch spekulierte und investierte den Erlös aus Kaffee, Kuchen und Bier nicht nur in das Haus in der Bergmannstraße, sondern in eine ebenso schöne Immobilie in Hohen Neuendorf, wo er mit seiner Familie lebte. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts wurde Margarete, und im Jahr 1902 die Tochter Gertrud geboren. Die beiden Töchter blieben im Osten der Stadt bis zum September jenes Jahres, als eine Mauer zwischen den Häusern errichtet wurde. Als in der Bergmannstraße eine Wohnung frei wurde, flüchteten Margarete und Gertrud in den Westen Berlins und bewohnten fortan zu zweit eine bescheidene Wohnung im zweiten Stock. So war das Haus in der Bergmannstraße ein großes Glück, besonders für Gertrud. Im Osten wurden sie als Republikflüchtlinge umgehend enteignet, und während Margarete als Angestellte verdiente, konnte sich Gertrud mit Häkeln und den Mieteinnahmen begnügen. Zum Leidwesen des Familienvaters blieben seine beiden einzigen Töchter ledig und kinderlos. Margarete verstarb schon früh, Gertrud Gutsch aberlebte lange in der kleinen Wohnung mit Blick auf die Nostitzstraße, und war schon längst über das gebärfähige Alter hinaus, als sie womöglich noch immer mit dem Gedanken spielte, vielleicht doch eines Tages zu heiraten. Der junge Mediziner jedenfalls, der sie ab und zu besuchte, sagte jedes Mal zu ihr: »Trutchen, bleib ledig, schaff dir bloß keen Mann an. Dann wirste noch 100 Jahre alt.« Trutchen hörte auf ihren Mediziner, und so kam der Tag, an dem sie sich Gedanken darüber machen musste, was aus ihrem Haus werden sollte, wenn die 100 Jahre wirklich einmal vorüber sein sollten. Interessenten gab es immer wieder, aber die alternde Jungfer wollte das Lebenswerk ihres Vaters so schnell nicht aufgeben. Sogar der Vormund, den man ihr eines Tages zur Seite stellte und der sich fortan auch um die Verwaltung des Hauses kümmerte, fand die Immobilie nicht ganz uninteressant. »Ick würde det ja glatt koofen, wenn ick nur nich so ne Abneigung gegen Kreuzberg hätte.« So kam eine Nachbarin in den Besitz des Hauses: Hildegard Mittenzwei, die schon das Haus in der Nostitzstraße Nummer 33 ihr Eigen nennen konnte, und der Gertrud Gutsch manchmal über die Straße hinweg zuwinkte. Die beiden Frauen kannten sich aus dem Büro des Steuerberaters, in dem Frau Mittenzwei arbeitete, und als Gertrud eines Tages mit den schweren Taschen nicht mehr die Treppe hinauf kam, half die Nachbarin. Später winkte Gertrud Gutsch am Fenster, wenn sie etwas brauchte, immer öfter ging Frau Mittenzwei nun für Gertrud »einholen«, und irgendwann kümmerte sie sich auch um die Küche, putzte und ließ ein Badezimmer für die alte Dame einbauen, bis sie eines Tages an ihrem Bett saß und zur Pflegerin geworden war. »Und irgendwie hat es sich dann so ergeben«, dass sie das ganze Haus der hilfsbereiten Nachbarin versprach. Es dauerte allerdings noch eine ganze Weile, bis Frau Mittenzwei ihr Erbe antreten konnte, denn »Trudchen« häkelte noch eine ganze Weile weiter. »Häkeln, das war ihr Leben«, und also häkelte sie , bis sie 94 Jahre alt war. Als sie dann am 1. Februar 1997 starb, übernahm Frau Mittenzwei die Geschäfte. Die Bewohner der Nummer 10, »lauter alte Leute, die es gewohnt gewesen waren, ihre Miete noch persönlich bei der Wirtin im 2. Stock vorbeizubringen - so wie das damals eben so üblich gewesen war, wenn der Hausbesitzer im Haus wohnte«, mussten ihr Geld nun an Frau Mittenzwei überweisen. Aber sonst blieb alles beim alten, in der Nummer 10 ging das Leben noch immer seinen gemächlichen Gang. Bis eines Tages der Anwalt mit dem Gel im Haar auftauchte, das Haus kaufte, die Fassade frisch verputzte und die Mieten drastisch erhöhte. Jetzt zieht der Plattenladen, der 30 Jahre lang die Kreuzberger mit Musik versorgte, in die Nostitzstraße hinauf.• |