April 2014 - Ausgabe 157
Kanzlei Hilfreich
Mitten in Babylon von Kajo Frings |
Der Anwalt Hilfreich trifft in Berlin auf die merkwürdigsten Leute. Einer davon ist der Dolmetscher Kazim Ölcüm. Jens Hilfreich war kaum in Kreuzberg angekommen, da lernte er, und zwar unter Androhung eines berufsrechtlichen Verfahrens, dass es nicht Anwaltskammer Westberlin hieß, sondern Anwaltskammer Berlin, und dass Anwälte und Ärzte Mittwoch nachmittags geschlossen haben. Von seinem Vorgänger übernahm er jedoch die Gewohnheit, am Mittwoch Nachmittag in die Oppelner Straße zu fahren und dort im Büro des Dolmetschers und Versicherungsvertreters Kazim Ölcüm eine Sprechstunde für »türkische Mitbürger« abzuhalten. Kazim Ölcüms Spezialgebiet war die Maximalisierung der wirtschaftlichen Folgen fremdverschuldeter Verkehrsunfälle. Sein Honorar bestand in der Nutzungsausfall-Entschädigung. Er verdiente damit mehr als der Anwalt, besorgte dafür aber auch alles, was erforderlich war, um den Fall zu gewinnen: Unfallfotos, Sachverständigengutachten und Zeugenaussagen. Nebenbei handelte Kazim, wenn er nach den Sommerferien aus der Türkei zurückkam, mit original griechischem und türkischem Schafskäse. Genauer gesagt: mit griechischen und türkischen Etiketten und bulgarischem Schafskäse. Jahre später, kurz nach dem Fall der Mauer, kam Kazim in Jens‘ Büro zusammen mit einem Bulgaren und zwei Rumänen. Der erste Rumäne war der Vetter eines in Haft sitzenden Landsmannes namens Viorel und erzählte auf rumänisch die Sache mit dem Ungar. Der zweite Rumäne in Jens‘ Büro war Mehrsprachler und übersetzte ins Bulgarische, der Bulgare übersetzte ins Türkische und Kazim übersetzte ins Deutsche. Also der Ungar hatte sich im »Hauptbahnhof« von Berlin-Ost von einer auf Taschendiebstahl spezialisierten Gruppe die Brieftasche stehlen lassen. Anstatt es nun bei dem Entwenden sein Bewenden zu lassen, erzählte er einer alten Frau mit kariösen Zähnen, die am »Hauptbahnhof« bettelte, die Geschichte des Diebstahls und dass es ihm ja nicht um das Geld ginge, sondern um das Foto seiner verstorbenen Frau, das in der Brieftasche war und das er gerne wiederhaben wolle. Die alte Frau war beeindruckt, organisierte ein Treffen mit den nunmehrigen Besitzern der Brieftasche. So traf sich der Ungar mit Viorel, der das Foto übergeben wollte - und die vom Ungarn informierte Polizei griff zu. Viorel saß nun in Haft. Und das nur, weil er einem ungarischen Witwer helfen wollte. So jedenfalls kam die Geschichte bei Jens Hilfreich an. Es war völlig unklar, was Wahrheit, was Erfindung und was der »stillen Post« geschuldet war. Jens entschied sich, es bei der Vertretung türkischer Autofahrer in Kreuzberg zu belassen und sich aus der internationalen Kriminalität herauszuhalten. Dass ihm das nicht immer gelang, ist allerdings schon wieder eine andere Geschichte.• |