September 2013 - Ausgabe 151
Strassen, Häuser, Höfe
Die Urbanstraße Nr. 28 von Werner von Westhafen |
Am Anfang gehörte das Haus einem Pferdehändler, der im Krieg sein Glück machte. Jetzt gehört es einem ehemaligen Mieter. Früher, als die Bestatter noch zu fünft waren gleich gegenüber dem Urbankrankenhaus – Bestatter siedeln gern in der Nähe von Hospitälern und Friedhöfen – hatte das Bestattungsunternehmen Steinberg seine Geschäftsräume noch in der damaligen Urbanstraße Nummer 29. Im Jahr der Olympiade aber, 1936, zog nebenan die Schneiderei aus. Auch die darüber liegende Wohnung in der Nr. 28 mit drei komfortablen Zimmern wurde frei. Und da Wohnungen noch immer Mangelware waren in Berlin, zog die Familie Steinberg ins Nachbarhaus, wo die Eigentümer gerade einen Sohn bekommen hatten. »Ach Mädel, den Manfred, den kennen wir doch schon, seit er ein Baby war!«, sagte Hildegard Steinberg zwei Jahrzehnte später zu ihrer Tochter Renate. Die Tochter wollte wissen, was die Mutter von dem jungen Mann hielt, mit dem sie früher unschuldig im Hof und im Treppenhaus gespielt hatte, und mit dem sie nun schon einige Male ausgegangen war. In der Filmbühne Graefestraße waren sie gewesen, und im Primus Palast, gleich neben Karstadt. Die Familie Steinberg hatte nichts gegen die Familie Fromberg, und so stand der glücklichen Verbindung zwischen den Hausbesitzern und ihren Mietern aus dem Parterre nichts mehr im Wege. Heute gehört das Haus den beiden Söhnen der ehemaligen Kinogängerin. Am Anfang der Geschichte aber gehörte es einem Pferdehändler, der den unvergesslichen Namen August Frischbier trug. Für Frischbier kam der Krieg gerade recht: Je mehr Pferde an der Front erschossen wurden, um so reicher wurde er. 1919 hatte er so viel Geld zusammengespart, dass er sich gleich zwei Häuser kaufen konnte. Doch der Mann hatte nicht nur einen Blick für Pferde, sondern auch für Frauen. Eines der beiden Häuser, so erzählte man, habe er mit seinen vielen Freundinnen vertrunken. Das Haus mit der Nummer 28 aber, das Frischbier für 20.000 Goldmark erstanden hatte, blieb stets im Familienbesitz. Und als der lebenslustige Pferdehändler im Alter von 82 Jahren eines Tages doch noch starb, vererbte er Vorderhaus, Seitenflügel und Hinterhaus an sämtliche seiner Kinder – auch an Karl Fromberg, den unehelichen Knaben einer schönen Wirtshaustochter, in die sich der reisende Pferdehändler eines Tages so sehr verliebt hatte, dass er sie heiratete und ihren Sohn adoptierte. Die schöne Emilie Auguste Fromberg trug also fortan den Namen Frischbier, doch der Stiefsohn, der 1899 geborene Karl, behielt Zeit seines Lebens den Mädchennamen der Mutter. Die schöne Wirtshaustochter und ihr kleiner Sohn Karl waren ein Glück für August Frischbier. Es ist einer von Karls Urenkeln, der 1962 in Berlin geborene Karsten Fromberg, der gemeinsam mit seinem Bruder das Erbe des Pferdehändlers in Ehren und bis heute zusammenhält. Eigenhändig hat der Bankkaufmann und Bestattungsunternehmer den Stuck an den denkmalgeschützten Fassaden erneuert, ist »mit dem Chef der Unteren Denkmalschutzbehörde Kreuzberg« die Fassade hinauf- und wieder heruntergeklettert und durch halb Kreuzberg gelaufen, um die kunstvollen Erkerträger zu fotografieren, die man in den Siebzigerjahren auch in der Urbanstraße Nummer 28 abgeschlagen hatte, weil Stuck plötzlich altmodisch war. Heute sind die kunstvollen Verzierungen wieder da, wo sie auch auf der alten Fotografie zu sehen sind, ebenso wie die Kapitelle im Erdgeschoss, von denen nach dem Krieg nur noch eines erhalten geblieben war. Noch 2006 war Karsten Fromberg damit beschäftigt, die letzten Kriegsschäden im Haus auszubessern. Foto: Privat
An dem Sarghändler im Erdgeschoss haben sich die Mieter nie gestört. Der Tod wohnte schon so lange in diesem Haus, dass er für alle seinen Schrecken verloren hatte. Auch für die kleine Renate, die Tochter des Bestattungsunternehmers, war das Geschäft immer etwas Selbstverständliches. Wenn eine neue Ladung Särge im Hausflur stand, spielte sie mit ihrer Freundin Gisela Verstecken in den großen Holzschatullen. Erst kürzlich war die alte Jugendfreundin wieder da, um mit Renate zwischen Urnen und Särgen Kaffee zu trinken und über die alten Zeiten zu plaudern. Dann kichern die Siebzigjährigen noch heute wie die jungen Mädchen, wenn sie daran denken, wie die Nachbarn erschreckten, wenn sie plötzlich den Sargdeckel öffneten. »Und dann musste ich ja die Sargnägel wieder geradekloppen.« Nach dem Krieg waren Särge Mangelware, da wurden die Nägel aus alten Särgen wieder herausgezogen und noch mal frisch aufpoliert. Als Renate sechzehn war, fuhren die Eltern in den Urlaub und überließen der Tochter zum ersten Mal das Geschäft. Da rief der Kollege von der Firma Schöne an, die es auch heute noch gibt, und sagte: »Kleene, pass uff: wenn ma was is, dann rufst de zu Onkel Justav an!« Aber sie brauchte den Justav nicht anzurufen. Renate Steinberg kannte sich längst aus in dem Geschäft. Bis heute hält die »Kleene« von damals die Stellung im Haus, kümmert sich um Haus und Hof und bringt ihrem Sohn ab und zu eine Tasse Kaffee an den Schreibtisch. Und die Geschichte des Hauses scheint für immer verwoben zu sein mit der Geschichte der Mieter aus dem Erdgeschoss. • |