Kreuzberger Chronik
November 2013 - Ausgabe 153

Kreuzberger
Leon Düfel

Es ist toll, nicht zu wissen, was Du als nächstes sagen sollst!


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von Hans W. Korfmann

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Es ist toll, nicht zu wissen, was man als nächstes sagen soll...«, sagt Leon Düvel und lacht. Im nächsten Moment zieht er die Stirn kraus und schaut schräg rechts nach oben. Er braucht den nächsten Satz nicht mehr auszusprechen, er steht ihm ins Gesicht geschrieben: »Äh, was habe ich da gerade gesagt?«

Schauspieler können auch ohne viele Worte viel sagen. Sie können mit den Augen sprechen, den Händen, ihrer ganzen Körperhaltung oder einem winzigen Zucken im Mundwinkel. Leon Düvel ist Schauspieler. Eigentlich hatte er nie daran gedacht, einer zu werden. Er wollte einmal Cowboy sein. Oder Demonstrant. Auf jeden Fall sollte es spannend sein, das Leben. Und es ist spannend, wenn man auf der Bühne steht und absolut keine Ahnung hat, wie es nun weitergeht. Denn anders als bei gewöhnlichen Theatergruppen spielen Leon Düvel und die Gorillas ohne Netz und doppelten Boden, ohne Souffleur und ohne Regieanweisung. Sie improvisieren. Sie erfinden erst auf der Bühne ihre Figuren, ihre Charaktere, ihre Geschichten. Das Publikum wirft ihnen irgendeinen belanglosen Satz zu, und daraus sollen Leon Düvel und seine Mitspieler dann Theater machen. Und das machen sie auch. Seit 15 Jahren schon. Erfolgreich.

Aber vielleicht gab es auch gar keine andere Möglichkeit für Leon, als Schauspieler zu werden. Schon im Kinderladen spielten sie Theater. »Demonstration« hieß das politisch korrekte Stück. Die Kinder waren die Demonstranten, und die Erzieher verkörperten die Staatsmacht und schossen mit Wasserspritzpistolen auf die Kinder, die sich unter Stühlen, Tischen und hinter Zeitungen versteckten und immerzu »Scheißbullen!« rufen mussten. Es waren die Siebzigerjahre, und Leon Düvels Kita in der Wiener Straße war eine der ersten überhaupt. Seine Eltern, die aus Hameln gekommen waren, weil der Vater nicht zur Bundeswehr und die Mutter demonstrieren wollte, hatten ihn mitbegründet.

Foto: Privat
Die Eltern waren alle in der KPDML, kochten mittags abwechselnd für die Kinder, räumten nachmittags das Spielzeug weg und diskutierten abends mit den Erziehern darüber, was für den revolutionären Nachwuchs wohl die richtige Pädagogik sei. Und irgendwie ist das Konzept aufgegangen, es ist aus allen Kindern etwas geworden. Es wurden keine kleinen Buchhalter und keine Hochschullehrer, weder Juristen noch gläubige Christen aus den Besuchern des Kinderladens in der riesigen Fabriketage, sie wurden alle echte Kreuzberger. Nur Alex Fountis, der Sohn des Griechen, ist aus der Art geschlagen: Er wurde Architekt und wohnt jetzt in Kleinmachnow. Ilja Schellschmidt aber wohnt noch immer in der Wohnung neben dem SO-36, in der er schon als Kilakind wohnte; Hendrike Detlefsen überführt Boote von Europa nach Amerika; Till Meyer, dessen Vater 1975 bei der Entführung des Politikers Peter Lorenz und dessen Verbringung ins »Volksgefängnis« in der Schenkendorfstraße dabei gewesen war, wurde taz-Redakteur, und die kleine Anja Franke aus der dreizehnköpfigen WG in Wilmersdorf , deren Eltern das Theater Rote Grütze gegründet hatten, wurde Schauspielerin. So wie Leon. Allerdings spielt Anja Franke nicht bei den Gorillas, sondern trat im Fernsehen auf, in der Praxis Bülowbogen zum Beispiel, oder in Liebling Kreuzberg.

Natürlich hätte aus dem Kreuzberger Leon auch ein Musiker, ein Schriftsteller, ein Maler oder einfach nur ein Verrückter werden können. Aber da es im politisch korrekten Haushalt von Sabine und Manfred natürlich keinen Fernseher, sondern nur ein Streifenhörnchen gab, und der Sohn von Sabine und Manfred Flipper und Bonanza quasi nur von Erzählungen kannte, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich in irgendwelche Welten zu träumen. Später, als Sabine und Manfred sich trennten und Leon oft allein blieb, weil Sabine ständig zu irgendwelchen politischen Sitzungen musste, ging er öfter zu Frank Gauda ins »Bullenviertel« rüber, der so stark berlinerte, dass auch Leon allmählich damit anfing. Sabine hatte nichts einzuwenden gegen den Jargon der Arbeiterklasse – auch wenn der Vater von Frank tatsächlich ein Polizist und immer betrunken war.

Frank und Leon aber verstanden sich gut, und die beiden zogen nicht nur zu Silvester als Cowboy und Indianer durch die Straßen, sie maskierten sich das ganze Jahr über, schlüpften in fremde Rollen und nahmen mit dem klapprigen Kassettenrecorder eigene Hörspiele auf. Meistens Western. In der Heinrich Zille Grundschule allerdings half auch der raue Cowboy-Ton aus dem Bullenviertel nicht weiter. Die Hälfte der Kinder sprach schon damals türkisch oder italienisch und hatte für Deutsch nicht viel übrig. »Sei nett zu ihnen, das sind ausländische Gastarbeiter, die haben es schwer!«, hatte Sabine dem Sohn erklärt. Doch als er sich eines Tages zehn »Negerküsse« kaufte, weil Sabine meinte, er müsse sich daran einmal gründlich satt essen, damit es endlich ein Ende hätte mit diesem Zuckerkram, da musste er neun abgeben. Und nach der Schule standen die armen Ausländer am Schultor und durchsuchten immer wieder die Schulranzen ihrer deutschen Mitschüler, »die waren damals schon ganz gut organisiert.«

Aber auch diese Zeit ging vorüber, man war von der Wiener Straße in die Waldemarstraße gezogen und von der Waldemarstraße in die Naunynstraße, nach dem Kinderladen in der Wiener Straße kam die Schule am Lausitzer Platz, und dann das Robert Koch Gymnasium in der Dieffenbachstraße. Sie waren ganz normale Kinder, schummelten bei den Klassenarbeiten, gründeten eine Schülerzeitung und eine Band namens »Kopfsteinpflaster«, schrieben existentialistische Gedichte und versuchten, Filme zu drehen. Die Achtzigerjahre waren angebrochen, in den Kreuzberger Hinterhöfen entstanden Off-Theater, überall gründeten sich Schauspielgruppen, um die Welt zu verändern. Mit Ralf Schulenburg und der Band Kopfsteinpflaster saß der Schlagzeuger Leon dann das erste Mal auf der Bühne. Schulenburg wurde einer seiner besten Freunde, und als er mit dem Englischkurs nach London fuhr, lernte er auch Robert Woitas etwas besser kennen. Anfang der Neunziger standen sie dann alle drei in Manhattan: Ralle Schulenburg, Robert Woitas und Leon Düvel. Ein Indianer, der auf Europatournee war, hatte den kreativen Kreuzbergern seine Wohnung überlassen, es sah aus, als läge den drei Freunden die Welt zu Füßen.

Zurück in Berlin aber stand Leon wieder am Zapfhahn der Eierschale. Meistens zusammen mit Joe, dem Spanier. Und weil zwei Schichten in der Woche hinter dem Tresen in jenen wunderbaren Jahren vollkommen ausreichten, um die Miete zu zahlen und den Kühlschrank aufzufüllen, blieb viel freie Zeit zum Leben. Und weil sie so viel freie Zeit hatten, kamen sie auf die verrücktesten Ideen. Eines Tages fragte Joe, ob Leon nicht Lust hätte, einen Theaterworkshop zu besuchen. Joe wollte nämlich Schauspieler werden.

Ob wirklich ein Schauspieler aus Joe wurde, weiß Leon Düvel nicht. Joe fuhr irgendwann zurück nach Spanien. Manche Wege gehen eben wieder auseinander. Auch Ralle Schulenburg fuhr irgendwann nach Wien. »Ralle war immer der beste von uns, aber er hat es nie geschafft, mit Kunst Geld zu verdienen.« Aber für Leon, den Schauspieler, und Robert, den Texter, wurde das Hobby allmählich zum Beruf. Sie waren »die besten Kumpels« gewesen- jetzt machten sie zusammen Theater, und lachten sich »halb tot dabei!« Sie schrieben ein Programm, das sie »Die legendäre Edgar Allen Schulze-Lehmann Show« nannten. Roberts Texte und Ideen waren so blöd, dass Leon mehr als einmal sagte: »Nee, das mach ich nicht, das ist mir zu blöd.« Aber Robert bestand darauf. Und er hatte recht damit: Je blöder sie waren, um so besser kamen sie an. Der Höhepunkt ihres Programms war »der Horst«. Horst wurde so berühmt, dass er acht Jahre lang jeden Montag auf der Bühne des Chamäleon-Varietés auftreten musste. Horst war in der Scheinbar, im Hamburger Schmidt Theater und im Quatsch Comedy Club. Horst wurde zur Kultfigur. Leon stand auf der Bühne und spielte, Robert zog im Hintergrund die Fäden. Robert hatte das Sagen, und Leon drohte zur Marionette zu werden. So gingen auch die Wege dieser beiden Freunde irgendwann wieder auseinander.

Drei Freunde in Amerika
Foto: Privat
Leon Düvel blieb auf Kurs. Es hätte auch ein Cowboy, ein Indianer, ein Demonstrant, vielleicht sogar ein Bulle aus ihm werden können. Aber aus den Kinderspielereien im Schülerladen, den Western auf dem Kassettenrecorder, den Auftritten mit der Schulband, den Jugendfreundschaften mit den gemeinsamen Idealen wurde allmählich Ernst. Aus dem Spiel wurde ein richtiges Leben. Und vieles, was anfangs noch spannend und abenteuerlich war, ist heute schon Alltag geworden. Doch abends, auf der Bühne des Ratibor Theaters, das zur festen Spielstätte der Gorillas geworden ist, ist es noch immer »unheimlich spannend«. Da ist immer noch das Lampenfieber. Und dieses wunderbare Gefühl, nicht zu wissen, was er als nächstes sagen soll. •








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