Mai 2013 - Ausgabe 147
Geschichten & Geschichte
Die Geschichte der Aschinger von Werner von Westhafen |
Sie waren die Schwaben der ersten Stunde und besaßen im heutigen Kreuzberg gleich drei Lokale: Eines davon lag am Moritzplatz. Nirgendwo auf der Welt werden die Schwaben mit solcher Aufmerksamkeit bedacht wie in Berlin. Nicht die Italiener, nicht die Türken, nicht die Schlesier, die Schwaben sind es, denen der Berliner schon seit langem mit einem ausgeprägten Misstrauen begegnet. Dabei hat der Berliner den Häuslebauern aus dem Süden einiges zu verdanken. Zumindest seine Speisekarte haben die Süddeutschen maßgeblich mitgestaltet, und das nicht erst seit den Siebzigerjahren, als der erste große Schwabenschwall über Berlin herfiel. Ein Koch und ein Kellner waren es, die Brüder August und Carl, die 1892 in Berlin die erste Bierquelle eröffneten. Noch heute greift mancher Wirt in und außerhalb Berlins auf die sinnreiche Wortschöpfung der schwäbischen Gerstensafttrinker zurück, und die »Bierquelle« ist längst ins Wörterbuch eingegangen. Im September 1892 aber, als die Gebrüder Aschinger ihr erstes Stehlokal mit Selbstbedienung, und damit auch den Vorläufer des Fastfoodrestaurants in der Neuen Roßstraße am Kölnischen Markt eröffneten, war der Name noch ungewöhnlich. Doch schon bald sprach ganz Berlin von den »Bierquellen«, und auch der Name Aschinger war schnell in aller Munde. Der Aufstieg der Schwaben war rasant. Innerhalb weniger Jahre avancierten sie zum größten Gastronomiebetrieb Europas, besaßen 23 Bierquellen, 15 Konditoreien und 8 Restaurants in der Hauptstadt. Aschinger hatte einen internationalen Ruf, wer in die Stadt kam, versäumte es nicht, »mal schnell bei Aschinger nen Happen zu essen« - vor dem Theaterbesuch oder dem Weg zum Sportpalast. Die mit einem besonderen Sinn für Sparsamkeit ausgestatteten Schwaben trafen mit den günstigen Speisen und Getränken im Arbeiterviertel des späteren Postbezirks SO 36 und dem Offiziers- und Vergnügungsviertel am Fuße des Kreuzbergs mit der späteren Postleitzahl 61 auf eine dankbare Klientel. Das Bier war günstig und wurde vor den Augen der Gäste gleich in Gläser gezapft. Dazu gab es gratis die berühmten Aschingerschrippen, die überall in kleinen Körbchen herumstanden. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie «Wecken” zu nennen, und sie waren bald so beliebt, dass Aschinger davon jede Woche über eine Million backen musste. Neben diesen trockenen Kostenlosen gab es die so genannte »Kaltmamsell«, eine Vitrine mit belegten Brötchen, von denen in den Bierquellen schon im dritten Jahr nach der Eröffnung der ersten Filiale täglich 20.000 Stück verspeist wurden. Neben den üblichen Wurstbelägen erfreute sich vor allem der »Hackepeter«, eine Mischung aus rohem Hackfleisch und Zwiebeln, großer Popularität. Da nicht nur Studenten und Arbeiter, sondern zunehmend auch feinere Leute zu den Lokalen mit ihren Spiegelwänden, Lüstern und Kronleuchtern pilgerten, wurden neben den mehr oder weniger trockenen Schrippen bald auch Suppen und warme Speisen angeboten. Berühmt war die Löffelerbsensuppe mit Speck, auch das Sauerkraut mit Erbsbrei erfreute sich allgemeiner Beliebtheit, ebenso wie das Eisbein mit Kartoffelpüree oder die Würstchen mit Kartoffelsalat. Schon 1895 versorgte die Quelle die Berliner täglich mit 2 Zentnern Lachs, 1,5 Zentnern Tatar, 3.500 Würstchen und 11 Zentnern Kartoffelsalat. 15 Jahre später waren es täglich 20.000 Würstchen und 10 Zentner Senf, sowie 50 Zentner Kartoffelsalat. Es scheint, als wären die Berliner ohne die Brüder aus Schwaben tatsächlich verhungert. Oder verdurstet: Carl und August verzapften in ihren übersprudelnden Bierquellen 120.000 Gläser am Tag - Litergläser selbstverständlich. Um der wachsenden Nachfrage gerecht zu werden, eröffneten die Häuslebauer 1912 in der Saarbrücker Straße in Prenzlauer Berg eine gigantische Produktionsstätte. Hier wurden von nun an Fleisch- und Wurstwaren hergestellt, Senf und verschiedene Feinkostgerichte. Es gab eine Tischlerei für die Stehtische und die Stühle der Restaurants, sowie eine Schlosserei und eine Klempnerei. Sogar eine Wäscherei mit eigener Seifenproduktion zum Waschen der Kleidung von inzwischen insgesamt 6.000 Mitarbeitern, die täglich appetitlich aussehen sollten. Am Moritzplatz, der mit seinem berühmten Konzertcafé und anderen Tanz- und Vergnügungslokalen nach dem Bau des Luisenstädtischen Kanals so etwas wie das urbane Zentrum Kreuzbergs war, eröffnete gegenüber dem Warenhaus Wertheim eine von Aschingers Bierquellen mit eigener Konzerthalle und dem angrenzenden Buggenhagener Theater. Längst gab es neben den einfachen Stehbiertischen feinere Restaurants mit Billardtischen und Tanzsälen. Die Preise allerdings waren auch hier noch erschwinglich. Tatsächlich luxuriös allerdings waren das Hotel Fürstenhof, das Palasthotel oder das Weinhaus Rheingold am Potsdamer Platz, die von der inzwischen neu gegründeten Aktiengesellschaft eröffnet wurden. Als der Nationalsozialismus Deutschland eroberte, zeigten sich die geschäftstüchtigen Schwaben mit dem neuen Regime durchaus kooperativ. Auf den Parteitagen der Nazis trank man Aschingers Bier und aß Aschingers Kartoffelsalat. Auch geeignete Räumlichkeiten stellten die Schwaben den Nazis gern zur Verfügung, was den Aschingers nach der Enteignung der Kempinskis offensichtlich das «Haus Vaterland” einbrachte. Auch das berühmte Café Kranzler gehörte bald zum schwäbischen Imperium. Erst der Krieg zerstörte die Träume der braven Schwaben. Vielleicht war es kein Zufall, dass 80 Prozent ihres Besitzes den Bomben zum Opfer fielen. Zwar versuchten die fleißigen Schwaben nach dem Krieg einen Neuanfang, doch alle Bemühungen waren vergeblich. Zu Beginn des neuen Jahrtausends schloss am Kudamm das letzte Lokal des einst so berühmten Aschinger-Clans. • Foto: Postkarte
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