Kreuzberger Chronik
März 2013 - Ausgabe 145

Strassen, Häuser, Höfe

Die Züllichauer Straße


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von Werner von Westhafen

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Rechts eine Friedhofsmauer, links Schrebergärten: Die Züllichauer Straße führt durch eine menschenleere Gegend.


Die Züllichauer Straße ist eine, bei der sogar die meisten der genialen Ex-Politologiestudenten - also der Berliner Taxifahrer - nachdenklich werden. Das liegt zum einen daran, dass das etwa 200 Meter lange Sträßchen mit seinem holprigen Kopfsteinpflaster von der etwa 60 Meter langen Golßener Straße abbiegt, die auch kaum jemand kennt. Um dann nach einigen wenigen Metern unverhofft den Namen zu wechseln und plötzlich Lilienthalstraße zu heißen.

Zum anderen liegt es daran, dass in der Straße kein einziges Haus steht. Dass das Sträßchen also in einer der menschenärmsten Gegenden Kreuzbergs liegt – wenn man einmal von den vielen Toten absieht, die hinter der Friedhofsmauer liegen, an der sich die Straße entlang zieht. Lediglich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo eine kleine Kolonie von Schrebergärten und ein Fußballplatz liegen, trifft man mitunter Spaziergänger.

Abgesehen davon, dass nur äußerst selten ein Fahrgast als Fahrziel die Züllichauer Straße angibt, kommt für das Gedächtnis der Taxifahrer noch erschwerend hinzu, dass auch das Örtchen Züllichau niemals irgendeine bedeutende Rolle gespielt hätte, weder in der Geschichte noch in jüngster Gegenwart.
Foto: Dieter Peters
Weshalb es bis heute rätselhaft ist, weshalb das Sträßchen überhaupt diesen Namen erhielt. Zwar liegt Züllichau in unmittelbarer Nähe der Ortschaft Schwiebus, was die Nachbarschaft zur Schwiebusser Straße erklärt, doch ist die Ehrung des Örtchens Schwiebus durch ein Straßenschild ebenso rätselhaft wie die Züllichaus.

Immerhin hat Schwiebus seinen alten Namen behalten, während Züllichau längst den in der polnischen Woiwodschaft Lebus gebräuchlicheren Namen Sulechów angenommen hat. Schon im 10. Jahrhundert wurde das Städtchen von Mieszko I. dem großpolnischen Reich einverleibt, ab dem Jahre 1138 gehörte es dann zum polnischen Herzogtum Schlesien, und erst 300 Jahre später befand sich der Ort plötzlich in Brandenburg.

1537 wurde der Züllichauer Landkreis, zu dem Gemeinden mit so poetisch klingende Namen wie Hauland, Alt Hauland, Alt Obra, Altreben, Alt Tepperbuden, Bergvorwerk, Großdorf, Karge, Groß Posenbrück, Klein Posenbrück, Kleistdorf, Neu Hauland, Krammensee, Neu Tepperbuden, Reckenwalde, Unruhsau oder Wolfsheide gehören, vom Markgrafen Hans von Küstrin erworben, der den Landkreis in seine »Neumark« eingliederte. Später, als die Kriege mit Schlesien bevorstehen, wird das Städtchen zur Garnisonsstadt. Wahrscheinlich liegt hierin der Grund verborgen für die Namensgebung des kleinen Sträßchens, das einst von den großen Berliner Kasernen am Columbiadamm zur Stadt hinaus führte. Von hier aus ritten die Garnisonen zu den entfernten preußischen Latifundien.

Züllichau jedenfalls liegt inmitten einer sanften Hügellandschaft über der Oder, zwei Stunden zu Fuß vom Hafen entfernt, der einst ein bedeutender Warenumschlagplatz war. In Züllichau trafen sich Händler aus allen Himmelsrichtungen. Die Wolle von den Schafen auf den fetten Wiesen entlang der Oder wurde über die Oder nach Frankfurt und Berlin verschifft. Als sich im 16. Jahrhundert Einwanderer aus Franken und aus Flandern, unter ihnen auch einige Weber, in der Ortschaft niederließen, erlebte die Siedlung ihren ersten Aufschwung. Züllichau wurde zum Zentrum des Weberhandwerks, und schon lebten 4.000 Menschen in den Hügeln über der Oder.

Zweimal stand das Städtchen in Flammen, doch das Handwerk starb nicht aus, im Gegenteil: Aus der Stadt der Weber entwickelte sich eine regelrechte Textilindustrie, der Hafen wurde ausgebaut, Eisenbahnschienen bis nach Züllichau und Schwiebus verlegt, um die Weberstadt mit dem Rest der Welt zu verbinden.
Foto: Dieter Peters
1898 war die Einwohnerzahl schon auf 8000 gestiegen. Um die Kreuzkirche und das Rathaus aus dem 16. Jahrhundert herum entstanden immer mehr Gassen, es gab die große Kaserne, eine Badeanstalt mit Sprungturm, die Königsstraße mit der Post, das Pädagogium, einen Stadtpark und das Café Rheingold in der Schwiebusser Straße. Hoch über Stadt und Fluss lagen die herrschaftlichen Villen der Textilbarone.

Nach dem Ersten Weltkrieg aber und dem Verlust der Provinz Posen lag das Städtchen plötzlich unmittelbar an der Grenze zu Polen, der Absatzmarkt war plötzlich nur noch halb so groß. Auch der 2. Weltkrieg brachte kein Glück: 1945 zerstörten sowjetische Truppen das halbe Städtchen. An den Glanz vergangener Zeiten erinnern heute noch die stattliche Kirche im Zentrum, das Rathaus und Teile der mittelalterlichen Stadtmauer mit dem Crossener Tor, sowie das herrschaftliche Züllichauer Schloss.

Auch eine kleine Straße in Berlin spricht dafür, dass das entfernte Züllichau einst einmal irgendwie von Bedeutung war. •


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