Juni 2013 - Ausgabe 148
Geschichten & Geschichte
Die Ankunft der Flüchtlinge von Werner von Westhafen |
Sie wurden von den Berlinern misstrauisch empfangen, verprügelt und ausgeschlossen: die Einwanderer aus Frankreich Der Pulverdampf des 30jährigen Krieges war noch nicht lange verflogen, viele Häuser in Berlin waren zerstört, und von denen, die noch bewohnbar waren, stand ein Drittel leer. Um der Stadt neues Leben einzuhauchen, beschloss der Kurfürst die Ansiedlung tatkräftiger und gebildeter Männer. Da kamen ihm die von der französischen Kirche verfolgten Calvinisten gerade recht, zumal der Kurfürst selbst Calvinist war und die Verfolgung der Glaubensbrüder in Frankreich mit Missmut verfolgte. Also erließ der Regent ein Edikt »Betreffend Diejenige Rechte, Privilegia und andere Wohlthaten, welche Se. Churf. Durchl. zu Brandenburg denen Evangelisch-Reformirten Frantzösischer Nation, so sich in Ihren Landen niederlassen werden daselbst zu verstatten gnädigst entschlossen seyn.« Anders als bei den jüdischen Einwanderern, die ein Vermögen von 10.000 Talern vorzuweisen hatten und sich nur in Alt-Berlin niederlassen durften, genossen die Franzosen unübersehbare Privilegien und Freiheiten. Den Religionsflüchtlingen wurde die freie Wahl eines Wohnsitzes zugesichert, Häuser standen schließlich genügend frei. Wer selbst bauen wollte, erhielt das Baumaterial umsonst. Wer es vorzog, zur Miete zu wohnen, brauchte vier Jahre lang keinen Mietzins zu zahlen. Sogar von den Steuern und den Zollgebühren bei der Einfuhr ihrer Habseligkeiten waren die Calvinisten befreit, und sie brauchten auch nicht zur Waffe zu greifen, um das Vaterland zu verteidigen. 1668 verpflichtete der Kurfürst die Berliner sogar zu eine Zwangsabgabe in Bargeld, um die armen Einwanderer finanziell zu unterstützen. Angelockt von der Großzügigkeit des Kurfürsten, kamen bis zum Ende des Jahrhunderts etwa 6.000 der so genannten Réfugiés nach Berlin, sodass um die Jahrhundertwende jeder fünfte Berliner französisch sprach. Viele dieser Franzosen, die später als »Hugenotten« in die Geschichtsbücher eingingen, siedelten sich zunächst in der Friedrichstadt und in der Dorotheenstadt an, wo sie eigene Kirchengemeinden gegründet hatten. Aber auch in der Gegend des heutigen Kreuzberg ließen sich die Einwanderer nieder. Etwa 1.000 französische Flüchtlinge, vornehmlich aus einem ehemaligen Fürstentum Südfrankreichs mit dem schönen Namen »Orange«, sollen sich »links und rechts« der heutigen Oranienstraße niedergelassen haben, die um 1740 nicht nur von Ackern und Wiesen, sondern bereits von ersten Häusern flankiert wurde. Und die damals womöglich noch »Orangenstraße« hieß. Die Hugenotten dieser Orangenstraße besaßen ausgedehnte Gärten mit für die Berliner noch exotischen Feldfrüchten wie Spargel, Blumenkohl oder Artischocken (vgl. Kreuzberger Chronik Nr. 112). Aber sie waren auch gute Geschäftsleute und Handwerker. 75 Prozent der Zugewanderten waren Gewerbetreibende, gute Handwerker oder vielseitige Arbeiter. Sie eröffneten Restaurants und sorgten für frischen Wind in der Berliner Küche, indem sie die »Boulette« und die »Schrippe« einführten, die heute in jedem Berliner Fremdenführer Erwähnung finden. Sie pflasterten ihre Straßen, stellten Schmuck und Uhren her, Posamenten und Galanteriewaren, Schuhe, Möbel und Medizin. Die Franzosen arbeiteten in 46 völlig neuen oder alten, in Berlin schon vollkommen in Vergessenheit geratenen Berufen. Auch die Stoffe, die an den Ufern der Spree und in den Werkstätten an der Köpenicker Straße gefärbt wurden, wussten die Hugenotten kunstvoll weiterzuverarbeiten. Die schon damals modebewussten Franzosen woben Tücher aus Leinen und aus Baumwolle, nähten Kleider aus Samt und Seide. »Schon mit den ersten Einwanderern kamen 600 Angehörige der Textilbranche nach Berlin. Darunter waren auch Färber und Schneider sowie Hut- und Mützenmacher«, und wenn die Stadt an der Spree Ende des 17. Jahrhunderts bekannt war für ihren Reichtum an Stoffen, dann war das ein Verdienst der Franzosen. Bereits 1687, als Kurfürstin Dorothea den Einwanderern, die ein eigenes Hospital und ein Waisenhaus errichten wollten, ein Stück Wiese schenkte, pflanzten die Calvinisten die ersten Maulbeerbäume Berlins (vgl. Kreuzberger Chronik Nr. 99). Zwei Jahre später entstand die erste hugenottische Seidenmanufaktur in Berlin, und als der feine Friedrich Wilhelm I., der jährlich 16.000 Taler für den Import von Seide ausgab, 1716 die Anweisung an alle Amtsleute, Magistrate und Geistlichen ergehen ließ, auf Kirchhöfen, Plätzen und Schulhöfen Maulbeerbäume zu pflanzen und Seidenraupen zu züchten, waren es die Hugenotten, die diese Anweisung am erfolgreichsten umsetzten. Seidenstrümpfe wurden in Berlin nun immer alltäglicher. Dennoch waren die alten Berliner auf die jungen Franzosen nicht gut zu sprechen. Sie verspotteten die Besserwisser als »Störer, Pfuscher und Paddenschlucker (Froschesser)«, wie Martin Düspohl in seiner »Kleinen Kreuzberggeschichte« schreibt. Sie sahen in den französischen Gewerbetreibenden und Arbeitern eine bedrohliche Konkurrenz, weshalb man ihnen auch strikt den Zutritt zu den Zünften verweigerte, ihre Häuser ansteckte oder sie schlicht verprügelte. Die Rechnung des Kurfürsten ging dennoch auf. Es kamen die Jahre, da auch die Franzosen Steuern zahlen mussten, und spätestens die 3. Generation der Einwanderer begann, sich mit den Berlinern einigermaßen zu vertragen, allmählich zu vermählen und heimisch zu werden in der Stadt. Berühmte Familiennamen wie Fontane, de Maizière, de la Motte Fouqué, Lenné, Lefèvre und viele französische Vokabeln wie »Trottoir« oder »Chaiselongue«, die in Berlin noch heute in täglichem Gebrauch sind, belegen, dass einst einmal ein Drittel der Berliner Französisch sprach. 400 Jahre nach der Ankunft der ersten Franzosen sind ihre Nachfahren längst zu Berlinern geworden, lediglich ihre Namen verraten mitunter noch ihre Herkunft. • |