Kreuzberger Chronik
Februar 2013 - Ausgabe 144

Lars Reimann Kreuzberger
Trilogie vom Chamissoplatz (1):
Geld hat mich nie interessiert




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von Hans W. Korfmann

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Werner Tammen steht vor dem Restaurant im Regen und raucht. Auch im Zagato ist das Rauchen inzwischen verboten. Tammen sieht die Grunewaldstraße hinauf nach Kreuzberg, Richtung Marheinekeplatz, wo der »kleine Italiener« mit seiner ehrlichen Küche, den fünf Nudelgerichten, den unprätentiösen Weinen und den Fotografien von Autorennwagen und Motorrädern an der Wand früher einmal sein Lokal hatte. Dreißig Jahre lang war er am Platz. Bis der Hauseigentümer kurzerhand die Miete verdoppelte.

Ameleto, der ehemalige Rennfahrer und spätere Wirt vom Zagato, hatte immer eine Zigarette im Mundwinkel. Nichtraucher gab es nicht in den Siebzigern. Kurze Haare auch nicht. Alle Gäste Ameletos hatten lange Haare und waren entweder Hippies oder Politologiestudenten, die keine Ahnung von Motorsport und von Esskultur hatten, und die keinen Anstand besaßen und ihre schmutzigen Füße ständig auf die Heizkörper legten. Das Verhältnis zwischen dem italienischen Wirt und seinen deutschen Gästen war eine leidenschaftliche Hassliebe, weshalb Ameleto sein Lokal mit kleinen Hinweisschildern dekorierte, die seine Hippies zu Menschen erziehen sollten. Am Tresen hing ein unübersehbarer, dicker, schwarzer Pfeil, daneben stand »Kasse!« .Damit niemand das Zahlen vergaß. An den Heizkörpern hingen kleine Zettel, auf denen stand: »Füße runter, aber zackzack«.

Tammen steht im Regen und blickt zurück. Es waren schöne Abende, wenn er mit Künstlern, Kunden oder Nachbarn bei dem »kleinen Italiener« saß. Es war die Zeit der Kreuzberger Boheme. Tammen erinnert sich, wie sie Geschirrschwämme in dünne Scheiben schnitten, färbten, bis sie wie Schnitzel aussahen, und dann auf ihre Teller legten, um verärgert nach dem Wirt zu rufen und sich über die schwabbelige Konsistenz der Scaloppine zu beschweren. Der leidenschaftliche Italiener verzog kräftig das Gesicht, über die italienische Küche machte man keine Scherze!

Tammen steht im Regen und denkt an die Geschichte mit Ernst Volland zurück. Wie sie zusammen mit dem Fotografen Krolow im Hinterzimmer der alten Bäckerei am Chamissoplatz Nr. 6 Bilder für die Ausstellung eines Malers zusammenstellten, den es gar nicht gab: Blaise Vincent. Ernst Volland, dessen Plakatausstellung an der Gedächtniskirche von der Polizei beschlagnahmt worden war, malte, was das Zeug hielt, aber unter einem Pseudonym. Ein französischer Musiker wurde engagiert, um bei der Vernissage die Rolle des Vincent zu spielen, und Tammen schmiedete am fiktiven Lebenslauf und am Gesamtwerk des Franzosen. Wolfgang Krolow fotografierte die ganze Aktion. Am Ende erschien der halbe Kiez, um den Maler vom Parnasse zu sehen.

Auch die Berliner Presse war begeistert. Ein Abgesandter der mittellosen Nationalgalerie erschien, der sämtliche Malergrößen der Stadt zum Spenden von Bildern aufgerufen hatte, um ein kürzlich beschädigtes Gemälde restaurieren zu können. Das Bild, das der Kustode der staatlichen Galerie gerne mitgenommen hätte, gehörte allerdings leider schon der Stadt Paris. So zumindest war es auf einem Kärtchen neben dem Rahmen vermerkt. Also musste er sich mit einem anderen Vincent begnügen. Die Bildzeitung erschien und fotografierte den Transport des Kunstwerks, und als ein Jahr später der ganze Schwindel um Blaise Vincent aufflog, schrieben sogar der Spiegel und der Stern, witzelten ARD und ZDF über den Schildbürgerstreich der Kreuzberger Boheme. »Das Bild«, sagt Tammen und bläst den Rauch in den Regen, »ist noch heute in der Nationalgalerie, ich weiß nicht, ob unter Volland oder Vincent – auf jeden Fall unter V.«

Tammen blickt zurück auf 40 Jahre Kreuzberg. Auf 35 Jahre Kunst. Im Sommer 1979 lud er zu seiner ersten Ausstellung ein. Pelle Igel, ein über achtzigjähriger Antifaschist, der seine politischen Karikaturen am Chamissoplatz zeigte. Eigentlich aber begann die Karriere des Galeristen Tammen mit Ernst Volland und dessen provokanten Postkarten, mit denen die Studenten Tammen und Schrader durch ganz Deutschland zogen, mit denen sie vor den Universitäten standen und Umsätze machten, die die Studenten eines Tages dazu bewogen, das Studieren aufzugeben und gleich mit dem Geldverdienen zu beginnen. Zusammen mit Uwe Müller präsentierten sie im Hinterzimmer einer ehemaligen Bäckerei am Chamissoplatz, in der ein Buchladen eingezogen war, Lesungen und Hörspiele. Als der Buchladen auch den vorderen Raum mit den Schaufenster räumte, ersetzten Tammen und Schrader die Bücher durch Bilder. So entstand die Galerie am Chamissoplatz – von der bald einmal halb Deutschland sprach.
Günter Zint
Einladungskarte zur Zint-Ausstellung im Juli 1987
Günter Zint

Das hatte sich Werner Tammen, als er 1973 nach Berlin kam, um sich die Pflichtjahre mit Helm und Maschinenpistole zu ersparen, nicht träumen lassen. Der Sohn jenes Maurermeisters, der die meisten Jahre seines Lebens mit den Bauarbeiten am eigenen Haus in Wilhelmshaven verbrachte, kam mit »naivem Blick« von der Kleinstadt in die Großstadt. Alles in Berlin, wo es anscheinend nur Alte und Junge, und wo es all diese langweiligen Vierzigjährigen nicht gab, begeisterte den Wilhelmshavener, der es gewohnt gewesen war, sich nach der Schule mit Freunden »in der platten Landschaft« zwischen Deich und Meer zu treffen. Nun traf man sich in Kneipen voller Trinker und Studenten, die es sich in den Ruinen der Kriegsstadt mit Wodka und Bier gemütlich zu machen versuchten. Zu fünft bewohnten sie eine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in Charlottenburg, trennten das lange Berliner Zimmer mit Sperrholzwänden, bis das Geschirr zertrümmert wurde und eine Radioanlage aus dem Zimmer flog. Tammens zweite WG in der Weserstraße wurde zum »Treffpunkt aller Wilhelmshavener in Berlin«. Aber dann zog der Student nach Kreuzberg an den Chamissoplatz. Das veränderte sein Leben.

Sechzig Jahre ist Werner Tammen jetzt alt. Wäre er, wie geplant, Beamter geworden, dann könnte er jetzt bald auf Reisen gehen. Die Freuden des Pensionärs genießen. Aber er hat es »nie bereut, die Lehrerkarriere aufgegeben zu haben«. Es könnte komfortabler sein, das Leben, aber Geld hat ihn nie wirklich interessiert. Einmal, als er die Bronze-Skulptur für das Willi-Brandt-Haus verkaufte, ging es um sechsstellige Beträge. »Aber irgendwie haben wir das Geld, das wir verdient haben, immer wieder durchgebracht.« Im Zagato, in der Galerie in der Fidicinstraße, für die er der geschäftstüchtigen Ehefrau des Kreuzberger Vorzeigekünstlers Mühlenhaupt jeden Monat eine stattliche Miete überwies, »13 Jahre lang. Aber es waren gute Jahre«. Das alte Atelier Mühlenhaupts war ein wunderbarer Ort, und die Vernissagen waren Feste, auf denen die Bürgermeister erschienen, selbst Bundeskanzler tauchten auf in der Kreuzberger Fidicinstraße, einst noch ein Zentrum politischen Widerstandes. »Ereignisse«, erinnert sich Tammen, »die am Chamissokiez durchaus mit gemischten Gefühlen aufgenommen wurde.«

Doch die kleine Galerie am kleinen Chamissoplatz war berühmt geworden. »Wir waren die ersten in ganz Deutschland, die Satire ausstellten«, da konnte der Erfolg nicht ausbleiben. Die erste Haderer- Ausstellung am Chamissoplatz war – lange, bevor der Cartoonist beim Stern berühmt wurde - ein Event, über das alle deutschen Zeitungen berichteten. Auch Manfred Deix hatte Tammen in Österreich aufgespürt, im Hubertus von Kalb, einem Wiener Lokal.
Foto: Privatarchiv
Tammen in den wilden 70ern bei der Laienausstellung »Herzblut«

»Deix hatte da seinen eigenen Stammtisch. Abends kam der Bundeskanzler Vranitzky vorbei, und dann auch noch der Außenminister«, und all die anderen Politiker, die Deix so gerne zeichnete, und von denen der Zeichner nie die Zuckerseite, sondern immer die Arschseite zeigte. Das störte die Politiker am Tisch nicht im geringsten, sie quasselten über den »Beistrich« in Deix´ Werken - womit sie den berühmten braunen Streifen auf der Rückseite der Unterhosen meinten. »Aber Deix war ein schwieriger Typ«. Er kam kaum weg aus Österreich und dem Haus mit seinen 50 Katzen und der Zigeunerin. Tammen musste bis ins Alpenland fliegen, nur um sich einen Katalog abzuholen. Er fuhr zum Häuschen, klingelte - klingelte – klingelte, bis endlich im ersten Stock ein Fenster aufflog und die schöne Zigeunerin in breitestem Wiener Slang herunter rief: »Der Maanfred is neet dooo...« – »Aber ich hab einen Termin, ich bin extra aus Berlin gekommen...« Tammen stand hilflos in der Landschaft, aber gab nicht auf, bis irgendwann ein Katalog über den Gartenzaun flog und der Berliner Galerist die Heimreise antreten konnte.

Wenige Monate später war Deix am Chamissoplatz. Es war seine erste Ausstellung in Deutschland. Wieder war der Chamissoplatz der Nabel der Welt, die Leute saßen auf dem Boden, lagen herum, rauchten, standen Schlange. So wie Ende der Achtziger, als »Brösel« ausstellte. »Der kurvte eine Woche lang mit einem pinkfarbenen Chevrolet um den Platz! Ich hab drei Kreuze gemacht, als er die Stadt wieder verließ. So viel wie in dieser Woche hab ich mein Leben lang nie wieder getrunken.« 20.000 Besucher kamen in die Galerie, und für sieben Wochen schien der kleine Kreuzberger Platz das Zentrum der Welt zu sein.

Doch irgendwann war auch der Ruhm des Chamissoplatzes wieder verflogen. So schnell, wie er gekommen war. Als die Mauer fiel und Berlin plötzlich wieder weltberühmt und in aller Munde war, als jeder Künstler, der etwas auf sich hielt, von seinem Agenten verlangte, eine Ausstellung in Berlin zu arrangieren, als jeder in seiner Vita neben New York und Paris auch Berlin aufzählen wollte, schossen die Galerien wie Unkraut aus dem Boden. »Vor dem Mauerfall hatten wir 20 Galerien in Berlin. Jetzt sind es 400!«, sagt Tammen, der Vorsitzende des Landesverbands der Berliner Galeristen. Die meisten sind in Mitte. Nur wenige sind Kreuzberg treu geblieben. Auch Tammen. Aus Prinzip. Sympathie. Überzeugung. Und einem Hauch von Sentimentalität.

Den Chamissoplatz aber – jenen Ort, an dem alles begann – hat er verlassen. Weil die Ureinwohner am Platz zu munkeln begannen, der einst politisch korrekte Kunsthändler sei dem Erfolg zum Opfer gefallen. Er habe die Seiten gewechselt und sei zum Feind übergelaufen.
Foto: Privatarchiv
Besuch, der im Kiez mit gemischten Gefühlen empfangen wird. Privatarchiv Ein Mann, der mit Gerhard Schröder zu Mittag aß, der Rudolf Scharping als intelligent bezeichnete und mit Lafontaine Frauenwitze austauschte, konnte kein echter Linker mehr sein. Vergessen waren plötzlich all die Feste, die man gemeinsam gefeiert hatte. Dieser Widerstand der Kreuzberger Boheme. - Werner Tammen bläst den Rauch in den Regen. Er hat sie nicht vergessen, die Feste, die Ausstellungen, diese vielen Jahre in der Galerie am Chamissoplatz.•







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