Kreuzberger Chronik
September 2012 - Ausgabe 140

Kreuzberger
Tassos Papaioannou

Es reicht ein kleiner Funke, und plötzlich brennt Athen


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Privatarchiv

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Es ist ein Kampf. Er möchte, dass sie das schaffen. Deshalb müssen sie ihm alle zuhören, alle diese 30 Kinder, die aus Uganda, der Türkei, Deutschland, England kommen, diese ewig quasselnde bunte Kreuzberger Mischung, die tausend andere Dinge im Kopf hat, nur nicht die schriftliche Division.

Also erzählt er den Witz von dem Traktorfahrer. Oder er erzählt ein Märchen. Wie er mit seinem griechischen Freund in der U- Bahn sitzt und wie sie sich ganz ungezwungen über Frauen unterhalten, weil ihre Sprache ohnehin niemand versteht. Wie sie über die Dicken und Dünnen, über die Geschminkten und Blondierten lästern, über die griechischen, die türkischen und die spanischen fachsimpeln. Und wie sich dann diese schöne Deutsche auf die Bank gegenüber setzt, und wie er zu seinem Freund sagte: »Aber die da, die würde ich sofort heiraten. Schau Dir diese Haare an, die Beine, den Mund...« Als die beiden Freunde aussteigen wollten, sagte sie: »Und vielen Dank für die vielen Komplimente« Die Deutsche war eine Stewardess und konnte Griechisch. Heute ist sie Papaioannous Frau.

Tassos Papaioannou ist Grieche. Und Griechen können erzählen. Griechen haben Humor. Zwei Zutaten, ohne die jeder Vortrag langweilig wird. Ohne Witz geht nix. Aber Kinder sind anspruchsvoll. Mit dem Witz vom kleinen Fritz kommt der Lehrer nicht mehr weit. Sie sind jetzt schon in der fünften Klasse, nach der Sechsten gabeln sich die kleinen Schicksalswege. Die einen »gehen aufs Gümmi«, die anderen auf die Integrierte. Einige von ihnen werden es nicht leicht haben. Sie haben Jungs und Mädchen im Kopf, das Leben lockt. Sie hören auch bei den besten Witzen nicht mehr richtig zu. Aber für die sechste Klasse hat Tassos Papaioannou noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Tassos Papaioannou ist Grieche. Und Griechen sind Spieler. Seine kleine Tochter glaubt noch immer, er könne zaubern und verlangte kürzlich noch, er solle die Oma wieder herzaubern, die gerade abgereist war. »Ein paar Tricks hab ich mir noch aufgehoben. Ohne Tricks geht nix.«

Tassos Papaioannou ist Grieche. Griechen sind Lehrer aus Passion, sie wollten schon immer die Welt erklären. Lauter Lehrer: Aristoteles, Platon, Pythagoras, der Großvater. Der Großvater von Tassos versuchte ein Leben lang, die Menschheit von der besseren Welt des Kommunismus zu überzeugen. Er war ein Anführer im griechischen Bürgerkrieg. Als die Militärdiktatur Griechenland eroberte, flüchtete er nach Taschkent. Jahrelang lebte er im Exil, bis Tassos´ Vater ihn 1972 nach Deutschland holte. Griechen handeln aus Überzeugung.

So auch Tassos´ Mutter. Sie erhielt sogar das Bundesverdienstkreuz für ihr kleines Lebenswerk. Sie hatte die Seniorengruppe, die sich in den Räumen der Jesus Kirche in der Kreuzbergstraße traf, in eine griechischsprachige Kita umgewandelt. In der Agrargesellschaft war es üblich gewesen, dass die Großeltern sich um die Enkelkinder kümmerten, während die Eltern auf den Feldern und bei der Olivenernte waren. Sie übertrug das griechische System ins deutsche Exil. Ein halbes Leben lang stand sie mit ihren Seniorinnen dem »Leuchtturm« vor. Auch der kleine Tassos, der mit seinen Eltern aus Bonn nach Berlin gezogen war, gehörte zur Kinderschar in der Kreuzbergstraße.

Tassos Papaioannou ist sozusagen der Sproß einer Lehrerfamilie. Und als er auf die Adolf Glaßbrenner Schule kam, um Buchstaben und Zahlen zu lernen, wollte er der Familie keine Schande machen und wurde ein guter Schüler. Noch heute, viele Jahre später, verspürt er eine Gänsehaut, wenn er sein ehemaliges Klassenzimmer betritt. Dort hatte er gesessen, in der Ecke hinten links. »Und jeder, der auf meinem alten Platz sitzt, hat sofort 100 Pluspunkte bei mir!«

Foto: Dieter Peters
Es war ein Landsmann, der die Direktorin der Glasbrenner-Schule auf den talentierten Mann hinwies, der sich dann aber erst einmal als Streetworker in Neukölln durchschlagen musste, in Jugendclubs arbeitete und in einer Wagenburg die »Aufnahmeprüfung« in zwei an den Seiten aufgeschlitzten und zusammengeschobenen Containern bestehen musste. Zu Gericht saßen damals die Kinder selbst, vor ihnen musste der junge Mann bestehen, sie sollten sich ihren Pädagogen selbst aussuchen. »Und da waren Typen darunter, bei denen fehlte nur noch das Hitlerbärtchen!« Trotzdem wählten sie diesen Griechen. Und als er eines Tages in eine andere Jugendeinrichtung wechselte, standen sie plötzlich vor der Tür. Sie wollten ihn zurückhaben. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Wagenburg wäre auf die türkischen Jungs losgegangen.

Auch eines Nachts in Neukölln, als er zwei junge Spaziergänger auf der Straße ansprach und um Feuer bat, bewiesen ihm die Schüler ihre Treue. »Die fingen sofort an, zu provozieren. Aber plötzlich standen drei von meinen alten Schülern hinter mir und sagten: »Wenn du Hilfe brauchst, Tassos: Wir sind immer für dich da!« Die Neuköllner leiteten dezent, aber unverzüglich den Rückzug ein.

Solche Erfolgserlebnisse hat nicht jeder. Aber jeder braucht sie. Lehrer ebenso wie Schüler. Erfolgserlebnisse katapultieren einen plötzlich nach vorn, wecken den Ehrgeiz. »Es reicht ein kleiner Funke, und plötzlich brennt Athen! Und dann kiekste und denkst dir, das kann doch alles nicht wahr sein.« Dann wacht da plötzlich einer auf, dann schreibt da einer, der immer nur Vieren schrieb, plötzlich eine Eins.

Dabei geht es gar nicht um die Noten. »Noten sind nebensächlich. Die Kinder müssen nur irgendwann einmal die Erfahrung machen, dass sie über sich hinauswachsen können. Dass sie nicht nur Dreier und Vierer, sondern auch mal ne Zwei schreiben können. Dass bei 22 noch nicht Schluss ist.«

So wie einst bei Tassos Papaioannou. Beim 5000-Meter-Lauf. Um sein Diplom als Sportlehrer zu bekommen, musste er diese verdammten 5000 Meter unter 22 laufen. Das hatte er noch nie geschafft. Schwimmen, Turnen, Springen, alles war kein Problem gewesen, aber an den 5000 Metern wäre er beinahe gescheitert. Dann hätte es den Lehrer Papaioannou nie gegeben. »Aber dann, als mir schon die Zunge am Boden hängt, höre ich, wie neben der Bahn einer sagt: Das schafft der nie!« Das war die Initialzündung! Tassos lief und lief, er flog geradezu über die Linie, lag am Boden wie die Olympioniken und pumpte nach Luft wie ein Maikäfer. Aber er hatte es geschafft: 21,48. »Und das müssen die Kinder einmal erleben! Dass noch mehr drin ist. Dass es noch weiter geht.«

Doch das Leben im Klassenzimmer ist anders als das Leben auf dem Sportplatz. Es geht nicht immer sportlich und fair zu. Der Kampf um die Positionen im gesellschaftlichen Gefüge ist ein Machtkampf, und je größer die Schüler werden, umso ebenbürtiger werden sie auch dem Mann vor der Tafel. Sie fordern ihn heraus, »und dann stehst du da und weißt genau, dass du jetzt nicht verlieren darfst, weil die ganze Klasse plötzlich hellwach ist und diesen Zweikampf verfolgt, als wäre das ein Action-Film. Und es gibt dann nur noch eine einzige Frage: Wer wird diesen Kampf gewinnen?«

Es gibt Situationen, wo auch der gestandene Streetworker zum Telefon greift, den Vater eines Schülers anruft und sagt: »Entschuldigen Sie, aber Sie müssen jetzt Ihr Kind abholen. Ich kann sonst nicht weiter unterrichten.« Damit hat keiner gerechnet. Absolutes Schweigen in der Klasse. Kein Bleistift fällt, kein Stuhlbein scharrt. Auch am anderen Ende der Leitung herrscht Stille. Dann ein Flehen, man könne doch nicht einfach aus der Firma weg, man müsse doch arbeiten, und die Schule gehe doch eigentlich bis 16 Uhr. Doch der Lehrer bleibt hart. Und selbst, wenn der Vater nicht in die Schule kommt, um den Störenfried abzuholen, zeigt die Aktion ihre Wirkung. Denn die Schüler lieben ihren Papaioannou. Auch, wenn sie es nicht immer zugeben. Sie spüren, dass er sie ernst nimmt. Dass sie ihm wichtig sind. Dass er mit ihnen gewinnen will. Dass sie mit ihm gewinnen können.

Denn der Sportlehrer Papaioannou ist ein Kämpfer. Wenn er eine Chance sieht, nimmt er sie wahr. Als er dieses Mädchen das erste Mal sah, wie harmonisch sie sich bewegte, wie sie mit ihren langen Beinen über diese 50 Meter-Bahn flog, war für ihn klar, dass sie auf die Sportschule musste. Sie bestand alle drei Aufnahmeprüfungen auf Anhieb, und als er Fatou aus der Glaßbrenner Schule verabschiedete, sagte er: »Und wenn sie dir dann eines Tages in Rio de Janeiro die Goldmedaille umhängen und die Fernsehkameras alle auf dich gerichtet sind, dann möchte ich, dass du mir zuwinkst und sagst: »Hallo, Herr Papaioannou, ich habs geschafft!«

Er ist Lehrer aus Passion. Er kämpft wie sein Großvater. Aus Überzeugung. Aber ohne Verbissenheit. Er ist ein Grieche, ein Spieler. Ein Scherzbold. Wie der Großvater. »Der Großvater und ich, wir waren Kumpel. Meine Eltern wollten ihn ins Altersheim stecken. Wir haben uns dann zwei oder drei dieser Häuser angesehen, aber Großvater meinte, in so einen Laden wolle er nicht. Also blieb er zuhause, und ich musste ab und zu nach ihm sehen.«

Es war eine schöne Zeit, das Studium in Griechenland, der Sommer, das Meer. Als Großvater für ein paar Tage ins Krankenhaus musste, zog Tassos im Nebenzimmer ein, das die Krankenschwester ihm angeboten hatte. Drüben lagen acht Männer und waren die halbe Nacht am Lachen und Erzählen. Tassos konnte kaum schlafen, weil Großvater ständig mit dem Stock klopfte, wenn er einen Kaffee oder ein Glas Wasser wollte. Es dauerte lange, bis Tassos bemerkte, dass die Männer jedesmal auf die Uhr sahen, wenn er ins Zimmer kam. Sie hatten Wetten darauf abschlossen, wie lange der Tassos dieses Mal brauchen würde. Und meistens gewann der Großvater. Denn wenn es sein musste, war Tassos schnell. Dann wuchs er über sich hinaus. So wie später bei den 5000 Metern. Und wie eines Tages vielleicht auch diese kleine Fatou. •


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