September 2012 - Ausgabe 140
Mein liebster Feind
Dreizehnter Brief von Kajo Frings |
Liebe Frau Neumann, der Tonfall Ihres letzten Briefes - ich zitiere -»greisenhaftes und krankes Hirn« - hat mich irritiert. Ihre offensichtliche Gegnerschaft zu älteren Mitbürgern scheint weit hasserfüllter als meine Kritik an erziehungsverweigernden Eltern, welche die Rücksichtslosigkeit ihrer Kinder im Extremfall - so wie die Filmemacherin Julie Delpy - sogar mit Bodyguards verteidigen wollen. Wenn Sie das interessiert: Weiterführendes finden Sie bei kajofrings. de/blog. Dabei bin ich übrigens keineswegs der Antike verfallen, und ich »verzweifle nicht an der Zukunft der Zivilisation, wenn ich mir die heutige junge Generation anschaue« -Aristoteles - denn meist wird ja aus den Kindern doch noch etwas. Trotz der »Erziehung« durch ihre Eltern -wie ich an meiner Tochter immer wieder bestaunen muss. Aber merken Sie sich eins, Frau Neumann, und damit will ich das Thema an dieser Stelle abschließen: Im Gegensatz zum alten Griechenland sind wir Silberhaarigen langsam aber sicher die Mehrheit. Aus gegebenem Anlass nun aber noch ein paar Bemerkungen zu Ihrem Gemäkel über Menschen, die nicht nur arbeiten, sondern auch andere für sich arbeiten lassen: Einerseits greifen Sie Ihren Hausbesitzer an, der die Miete erhöht, andererseits freuen Sie sich über die niedrigen Preise in Ihrem Lieblingsrestaurant. Sie fragen aber nicht, ob der Preis des Latte Macchiato nicht höher ist als der Nettostundenlohn der Bedienung. Die andere Seite dieser moralischen Medaille ist, dass Sie anscheinend Bücher von Ingrid Noll, Kristin Hunter oder Jan Peter Bremer lesen, obwohl das einschlägige Werk zu diesem Thema nicht »Die Apothekerin«, »Der Hausbesitzer« oder »Der amerikanische Investor«, sondern schlicht »Das Kapital« heißt. Wenn Sie mehr darüber wissen möchten, empfehle ich Ihnen einen Besuch im Baiz. Das Baiz in der Torstraße mit seinem Werbeslogan, der auch aus Alt-Kreuzberg stammen könnte - »Kein Becks, kein Latte, kein Smalltalk« - ist die Stammkneipe der Ich-Erzählerin Marie im Berlin-Roman »Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod« des in Kreuzberg lebenden Hamburger Schriftstellers Leander Sukov, handelnd von einer in der DDR sozialisierten jungen Frau, die nach Berlin zieht. Es geht - wie in den Gesprächen am Tresen - um »Arbeitsverhältnisse, Liebesverhältnisse, Finanzen und Renovierungen«. Wenn Sie was über die Stadt und den Kapitalismus erahnen wollen, Frau Neumann, dann lesen Sie diesen Roman. Meine Lieblingsstelle: »Ich komme ins Gespräch mit einem, der neben mir trinkt. Ein großes Weizen vor sich, ...der Mann mit dem vollen silbergrauen Haar,... einer der aus der falschen Quelle getrunken hat: fortgeschrittenes Alter, aber aus dem blicken zwei zwanzigjährige Augen.« Aber was sag ich Ihnen; für Sie bin ich ja offensichtlich eh nur ein hirnloser, alter Greis. Ihr unergebener Kajo Frings |