Oktober 2012 - Ausgabe 141
Herr D.
Der Herr D. und der Herr Horn von Hans W. Korfmann |
oder Wie einsam es in einem Mietshaus werden kann, wenn es verkauft wird Der Herr D. wollte Fernsehen. Es war ihm egal, was ihm das Fernsehen vorspielen würde, er wollte nur, dass ihm jemand irgendetwas vorspielte. Er wollte sozusagen Abstand von der Realität, die ihm in Gestalt eines Autofahrers entgegengetreten war, der den Herrn D. samt Fahrrad beinahe ins Jenseits befördert hatte. Ohne sich zu entschuldigen. Der Tag war eine einzige Katastrophe gewesen. Hungrig und übellaunig stand der Herr D. an der Theke des Wurststandes in der Markthalle, aber seine Wurst war schon wieder ausverkauft. „Warum können sie nicht von der einzig guten Wurst, die Sie haben, ein bisschen mehr machen?“, fragte der Herr D. und ging zum Bäcker. Der Bäcker hatte auch keine Rumkugeln mehr. Und bei Alimentari standen so viele Menschen und warteten auf ein Glas Wein, dass der Herr D. beschloss, in Connys kleines Café zu gehen. Bei Conni in der Heimstraße gab es zwar keinen Wein, aber Conni munterte jeden auf. Bei Conni saßen alle depressiven Kreuzberger Radfahrer und Wurstkäufer und Rumkugelesser und erholten sich. Aber Conni war nicht da. Die Conni musste sich selbst erholen. Noch etwas übellauniger schlug der Herr D. den Heimweg ein und schaltete den Fernseher an. Fußball. Deutschland Österreich. Einen Moment lang sah es aus, als würde Deutschland verlieren und als könne sich die Laune des Herrn D. noch einmal bessern – aber dann gewannen sie doch wieder, die Deutschen. Deprimiert trat er auf den Balkon und sah zum Nachbarhaus hinüber. Sie trafen sich nach jedem Fußballspiel auf dem Balkon, der Herr D. und der nette Herr Horn aus der Nummer 18. Sie tauschten fachmännische Kommentare, plauderten über die Blumen, das Wetter, die neuen Hausbesitzer. Die gleiche Immobilienfirma, die auch das Haus des Herrn D. gekauft hatte. Aber auch der Herr Horn war nicht da. Und seine Balkonblumen sahen so vertrocknet aus, als hätten sie seit Wochen kein Wasser gesehen. Sein Auto stand seit Tagen auf demselben Parkplatz. Komisch, dachte der Herr D., und klingelte. Aber es war niemand da, und Horns Nachbarn auf der Etage waren kürzlich ausgezogen. Unter ihm, im Dritten, stand auch schon alles leer. Die meisten aus der Nummer 18. hatten schnell Platz gemacht für die neuen Besitzer der Eigentumswohnungen, die bald hier einziehen würden. Wenige Tage später wurde die 120 Quadratmeter große Wohnung im 4. Stock von der Polizei versiegelt. Wie lange der Herr Horn in der Wohnung gelegen hatte, wusste niemand. Keiner im fast menschenleeren Haus hatte sein Fehlen bemerkt. Die polnischen Arbeiter, die auf einer Etage eingezogen waren, kannten seinen Namen nicht. Der Herr D. ging zur Nachbarin, einer der letzten, die noch geblieben war von der alten Hausgemeinschaft, und aß ein Stück Pflaumenkuchen. „Woran ist er eigentlich gestorben?“, fragte der Herr D. „Keiner weiß was!“, sagte die Nachbarin - „Aha!“, sagte der Herr D. • |