Kreuzberger Chronik
November 2012 - Ausgabe 142

Strassen, Häuser, Höfe

Lausitzerstraße 22


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von Werner von Westhafen

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Die Zeit der Maschinen war gekommen, in der Nähe der Wasserstraßen entstanden Fabriken. Eine in der Lausitzer Straße

Foto: Privatarchiv

Im Hof der Lausitzer Straße Nummer 22 mit seinem backsteinroten Schornstein und der legendär gewordenen Regenbogenfabrik in den Remisen und alten Lagerhallen wurden keine Regenbogen fabriziert. Bevor junge Leute in den Achtzigerjahren den Hof besetzten, um ihre Ideen von einem anderen, besseren Leben zu verwirklichen, lagerten in der Fabrik profane Produkte wie Kolophonium, Salmiakgeist, Stearin, ätzende Laugen und Säuren, Aceton und Zyankali, und bevor wieder Kinder im Hof spielen und Blumen wachsen konnten, musste der gesamte Boden abgetragen und mit frischer Erde wieder angefüllt werden. Die Chemiefabrik eines gewissen Albert Carl war nicht der erste Betrieb an der kurzen Straße, die vom Landwehrkanal über die Reichenberger Straße bis zur Skalitzer Straße führte. Zunächst rauchte der Schornstein, um ein Dampfsägewerk anzutreiben, dessen Maschinen sich ab 1885 in der Lausitzer Straße Nummer 22 drehten. Der Tischlermeister Carl Bliesener hatte das Grundstück fünf Jahre zuvor einem Spekulanten abgekauft, der es wiederum von einem Spekulanten erworben hatte, der es wiederum von einem Spekulanten hatte. Ganz am Anfang der Kette von Spekulanten steht der Rentier Friedrich Gennrich. Er kaufte, als der Block Nummer 109 nach der Verwirklichung des Hobrechtplanes von neu angelegten Straßen eingefasst wurde und die Lausitzter Straße ihren Namen erhielt. Im Juli 1876 erhält der rüstige Rentier die Genehmigung, auf dem noch unbebauten Wiesengrundstück mit der Nummer 22 ein Wohnhaus, eine Remise und ein so genanntes Abtrittsgebäude zu errichten, in dem die Berliner fortan austreten und mit Wasser nachspülen konnten. Hobrecht nämlich hatte sämtliche neuen Grundstücke an ein modernes Kanalisationssystem anschließen lassen.

Der Tischlermeister Bliesener dürfte der erste in der langen Reihe der Käufer gewesen sein, der sein Geld ehrlich verdienen wollte und nicht daran dachte, mit möglichst viel Gewinn sofort weiter zu verkaufen. Die Nähe zum Landwehrkanal war ideal für einen Handwerker, der sein Holz von den Schiffen kaufen musste, und der womöglich schon beim Kauf des Grundstückes die Idee hatte, mit einer Dampfmaschine gleich eine ganze Reihe von Maschinen anzutreiben, die fortan für ihn sägen, fräsen und schleifen sollten.
1885 jedenfalls führt der stolze Fabrikbesitzer in seinem Briefkopf das gesamte Repertoire seiner Tischlerkunst auf und schreibt: »Dampf-Band-Block-Walzen- und Fournierschneideanstalt – Fabrik von Scheuerleisten und Bettstellfüßen – Fabrik von Thürbekleidungen und Treppenhandgriffen.«

Foto: Privatarchiv
Angetrieben wurde das Wunderwerk der Technik mit seinen vielen, sich ständig drehenden Maschinen von einem einzigen Riemen, der, rotierend wie ein großer Keilriehmen, unter der Decke der Fabrikationshalle hindurchlief und alles in Bewegung setzte: Die Sägen, die Fräsen, die Hobelmaschinen, Schleifmaschinen und Drechselmaschinen. Das Herzstück des Betriebs, die Dampfmaschine mit ihrem großen Kessel und dem Kohleofen lag gleich neben dem Schornstein, ebenso wie das Zimmer des Heizers, der wie die Heizer auf den Dampflokomotiven und den Dampfschiffen den ganzen Tag über nichts anderes zu tun hatte, als zu schaufeln und auf einen gleichmäßigen Druck im Kessel zu achten. Ab und zu, wenn sich wieder einmal alles Wasser im Kessel in Dampf aufgelöst hatte, musste er mit einem Fuhrwerk zum Kanal hinunterfahren und frisches Wasser holen.
Nach und nach entstehen auf dem Hof mit dem Dampfsägewerk weitere Wirtschaftsgebäude, Ställe, Lagerräume und ein Kontor, während im Vorderhaus die Mieter ihren täglichen Beschäftigungen nachgingen und sich abends, wenn die Maschinen still standen, zur Nachtruhe legten. Natürlich brachte diese berühmt gewordene Berliner Mischung von Wohnen und Arbeiten, also Mietern im Vorderhaus und Arbeitern im Hinterhof, auch ihre Probleme mit sich. Am 12. 9. 1926 zum Beispiel berichtet die Rote Fahne von Beschwerden der Bewohner aus der Lausitzer Straße Nr. 21, die sich schon mehrmals an die Behörden gewandt hatten. Doch diese schienen, so die Rote Fahne, auf der Seite der reichen Fabrikbesitzer zu stehen, »keine der zuständigen Stellen bemüht sich«, etwas gegen die »Übelstände« im Hinterhof der 22 zu unternehmen. Es geht um den Gestank, der aus den Pferdeställen der Fabrik »direkt in die Wohnungen des 3. Hofes dringt. Auch die Fliegenplage ist so lästig, dass die Bewohner nachts keinen Schlaf finden.« Drei Monate dauert es, bis der Fabrikbesitzer endlich der Aufforderung der Behörden nachkommt und die kleinen Fenster im Pferdestall zumauern lässt.

Zu dieser Zeit ist bereits Emil Bartels der Eigentümer des Grundstückes, doch schon wenige Monate später bringt die erste große Weltwirtschaftskrise die Dampfmaschinensägen in der Lausitzer Straße endgültig zum Stillstand.
Auch die später auf dem Gelände sich einrichtende Chemiefabrik bleibt nicht für immer auf dem Hof. Zwar baut Albert Carl nach dem Krieg die zum Teil zerstörten Räume wieder auf und errichtet sogar neue Lagerräume, doch die Isolation von Westberlin macht auch den Chemikern das Leben schwer. Als der Senat von Berlin in den Siebzigerjahren damit beginnt, Altbauten abzureißen, um damit Raum für Immobilienhändler und Spekulanten zu schaffen, wird der Block 109 zum zweiten Mal zum Spekulationsobjekt. In den Siebzigern taucht als Besitzerin des Grundstücks eine Firma namens AWE auf, eine »Gesellschaft für die Errichtung von Mieträumen mbH & Co«. •


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