November 2012 - Ausgabe 142
Mein liebster Feind
Vierzehnter Brief von Kajo Frings |
Werte Frau Neumann, belassen wir’s einfach bei der Feststellung, dass es um die Sache geht und wir es nicht persönlich meinen. Mit Ihrer Frage im Kopf, wie ich eigentlich Kreuzberg sehe, ging ich letzte Woche mit unserem Hund spazieren und stand plötzlich vor einem Laden in der Fidicinstraße, in dem eine Frau mit Zöpfen über Akten brütete. »Büro für Raum und Zeit« stand über der Tür, und da dachte ich mir, ich erzähle Ihnen mal etwas von meinen Erlebnissen in Kreuzberg. Ich kam im Oktober 1982 nach Berlin. Weil ich endlich in einer Großstadt leben wollte. Kreuzberg war Zufall. Eine Kanzlei in der Gneisenaustraße wurde zum Kauf angeboten. Erst übernachtete ich in einer WG, in der ein Zimmer frei war, dann fand ich eine Parterre-Wohnung. Noch diente sie dem Eigentümer, einem Installateur, als Lager. Aber die Maklerin versprach, Ende März sei alles raus. Am Tag des Einzugs aber lagerten die Heizungsrohre immer noch im Berliner Zimmer, von der Decke rieselte der abgeschlagene Stuck. Jemand hatte die Deckenpaneele, die bei Mietvertragsschluss noch vorhanden waren, ausgebaut. Das war mein Einstieg in Kreuzberg. Ich, der jeden Ikeaschrank falsch zusammenschraubte, wurde zum Zimmermann und nagelte abends nach meiner Arbeit die Bretter an die Decke. Abends luden mich die Nachbarn über mir auf ein Getränk ein, um den Lärm am Karfreitag zu beenden. So lernte ich sie kennen, ein Ehepaar, nahezu glücklich in ihrer geräumigen Kreuzberger Altbauwohnung. Zwei Jahre später erzählten sie mir freudestrahlend, dass sie eine schönere, helle Wohnung gefunden hätten, ein Traum aus Beton und Glas, Glas, Glas. Sie bezogen einen der Vorzeigeneubauten am Fraenkelufer. Er war Lehrer, sie verdiente ihr Geld durch harte Arbeit. Als er in Begleitung einer jungen Kollegin auf Klassenfahrt fuhr und mit einer Schallplatte voller romantischer Lieder heimkehrte, hatte die Gattin den Verdacht, dass das Abspielen dieser Platte etwas mit Ereignissen der Klassenfahrt zu tun haben könnte, und bat ihn, das Abspielen der Schallplatte in ihrer Anwesenheit einzustellen . Das war das Ende der Beziehung, und sie begann damit, den Hausrat zu teilen. Mit der Schallplatte fing sie an. Jürgen kaufte eine neue und erhöhte den Schalldruck der Anlage, nicht ohne vorher die Hausratsteilung an ihrer Lieblingsvase fortgesetzt zu haben. Eines Abends rief sie an: »KaJo du bist doch Anwalt. Ich habe meinen Mann ausgeschlossen, nur ist er einfach durch die Glastür des Wohnzimmers eingebrochen und hört wieder Musik. Was soll ich machen?« Ich antwortete müde und spontan: »Ich bin Rechtsanwalt, nicht Glaser«. Und ich hörte nie wieder von ihr. Es gibt viele solcher Erinnerungen, und ich möchte keine von ihnen, keinen dieser Tage in Kreuzberg missen. Soviel also zu meiner heimlichen Liebe zu Kreuzberg. Ihr Kajo Frings |