März 2012 - Ausgabe 135
Geschichten & Geschichte
Balkone über Kreuzberg von Werner von Westhafen |
Sie wurden geschaffen, damit sich feine Herrschaften auf ihnen brüsten konnten. Doch dann kamen die Gärtnerinnen Es waren weniger die strategischen Überlegungen der Kriegsherren, die eine Bombardierung des Flughafens Tempelhof und der angrenzenden Wohngebiete verhinderte. Es war der Wind, der den Fliegern der zweiten großen Angriffswelle am 3. Februar 1945 den Qualm der brennenden Häuser entgegenwehte und ihre Sicht so stark beeinträchtigte, dass sie das Viertel um den kleinen Chamissoplatz glatt überflogen. Heute gehören die Fassaden der Fidicinstraße, der Willbald-Alexis-Straße und der Arndtstraße zu den am meisten fotografierten Motiven des Berliner Szeneviertels. In den Reisebussen, die über das Kopfsteinpflaster rollen, erzählen die Fremdenführer von den großen Kasernen am Tempelhofer Feld und von den Kaiserparaden, von den Brauereien am Kreuzberg und von den Vergnügungslokalen an der Hasenheide. Doch die Touristen bewundern die alten Balkone, die der kleinen Kopfsteinpflasterstraße auf der sonnigen Höhe der Tempelhofer Berge einen einmaligen Charakter verleihen. Nirgendwo sonst in der Stadt wuchert es so grün über die schmiedeeisernen Geländer. Palmen, Birken, Hanf und Blumen gedeihen in den hängenden Gärten von Kreuzberg, Wein und Efeu umranken den alten Stuck. Die grünen Balkone sind jedoch – wie oft vermutet wird - keine Errungenschaft der Blumenkinder, die in den Sechzigerjahren die Ruinenstadt eroberten und bepflanzten. Bereits 1871, als Berlin zum ersten Mal Hauptstadt wurde, schwappte die erste große Einwanderungswelle über die Stadt. Tausende kamen aus Pommern, Schlesien, Thüringen oder Sachsen angereist, um in der aufstrebenden Metropole ihr Glück zu machen, und während sich die Männer auf dem Bau und in den Fabriken der Gründerzeit verdingten, wurden die Bäuerinnen zu Hausfrauen. Und während die Männer in Tabagien, Brauerein und Brennereien ihre Heimat bald vergessen hatten, dachten die Frauen oft mit Wehmut an die grüne Heimat zurück. Sie vermissten Blumen, Wiesen und Gärten, und begannen damit, auf den Balkonen Zierpflanzen, Tomaten und Gurken zu ziehen. 1904 schrieb der Tomatenspezialist Johannes Böttner in einem Artikel über die »Balkongärtnerei und Vorgärten« der Hauptstadt: »Die grünumrankten, blumengeschmückten Ausbauten geben unserem einförmigen Straßenbild einen liebenswerten Zug, und wenn einem Berliner die Wahl gelassen wird zwischen einer Wohnung mit oder ohne Balkon, zieht er unbedingt die erste vor, mag sie auch sonst recht viele Mängel aufweisen. Der Balkon ersetzt ihm vieles. Er dient abwechselnd als Kinderzimmer, Speisekammer, Gartenrestaurant, Studierstube und Sommerfrische, er begreift oft alles in sich, was der Großstädter, was der Großstädter vom Umgang mit der Natur in sein tägliches Leben einbeziehen kann.« Foto: Postkarte
Foto: Dieter Peters
Böttner, der den Brandenburgern auf einem »Tomatenfest« im Jahre 1903 bereits beigebracht hatte, dass man die roten Früchte der Zierpflanzen durchaus in einen Salat schneiden und verspeisen konnte, proklamierte den Berliner »Nützlichkeitsbalkon: Statt des wilden Weins echter Wein in blauen und goldenen Trauben, statt des kalten Efeus rotfrüchtige Obstbäumchen in Kübeln, statt der Feuerbohnen Brech- und Schneidebohnen, statt Reseda Petersilie... und in den dunklen Teilen der Balkone Champignons.« Die Balkone, einst nicht mehr als eine architektonische Zierde, ein beinahe sinnloses Zitat aus dem südlichen Italien, erhielten mit ihren neuen Besitzern eine lebenswichtige Funktion, die sich besonders nach dem zweiten großen Krieg zeigte: Die Vitamine für die Kinder und der Tabak für die Väter wurden auf den Berliner Balkonen gezogen, im Winter waren Holz und Kohlen im 3. Stock sicherer als im Keller. So verwandelten sich im Lauf der Jahre die luftigen Präsentierteller der Vornehmen, die in ihrem Sonntagsstaat auf den Balkonen standen, um gesehen zu werden oder um sehen, in großstädtische und kleinbürgerliche Nutzflächen. Begonnen hatte der luftige Fassadenanbau in der Stadt bereits in der 8.000 Seelengemeinde Berlin-Cölln, als am Schloss der erste Balkon prankte, von dem aus Kurfürst Joachim II bei gutem Wetter und guter Laune seinem Volk zuwinkte, und alle Nachahmungen von Edelmännern, Rittern und Großbürgern gingen immer »nach vorne raus«. Balkone waren die Plattformen des Geltungsdranges, Balkone in Hinterhöfen gab es nicht. Besonders ausgeprägt scheint der Geltungsdrang Friedrich II gewesen zu sein, der Unter den Linden gleich 44 kleinere Häuser abreißen und vierstöckig mit Balkonen wieder aufbauen ließ. Doch die Tage großer Paraden, an denen die Berliner auf ihre Balkone traten, sind vorüber. Geblieben aber sind die grünen Inseln, auf denen bis heute Liegestühle, kleine Tische und Kaffeetassen stehen, und auf denen all jene Kreuzberger Urlaub machen, die sich die Malediven nicht leisten können. Sie bleiben in Balkonien – am Chamissoplatz. • |