Februar 2012 - Ausgabe 134
Kreuzberger
Paul Maria Kern Veränderungen stehen vor der Tür. Lass sie zu.
von Hans W. Korfmann
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Es kam die Zeit, da waren Handtäschchen nicht mehr allein der weiblichen Dekoration vorbehalten, sondern sie gehörten zur serienmäßigen Ausstattung eines jeden Geschäftsautos. Angefüllt mit Visitenkarten, Rechenstab, Terminkalender und anderen männlichen Accessoires lagen sie auf dem Beifahrersitz, baumelten lässig an den Handgelenken der Männer auf dem Weg zu Konferenzen. Ein solches Männerhandtäschchen hätte Paul Maria Kern nie getragen. Er trägt stattdessen eine Aktentasche, nicht größer als eine Collegetasche. Aber sie birgt alles Lebensnotwendige und ist mindestens so reizvoll und geheimnisvoll wie die unsterblichen kleinen Begleiter der Damen. Doch tut sich in Paul Maria Kerns Aktentasche kein dunkler Abgrund auf wie in Damenhandtaschen, die das gesamte weibliche Chaos aus Lippenstiften, Puderdöschen, Kugelschreibern, Tampons, Präservativen, Taschentüchern, Spiegeln, Handys und unzähligen Zetteln mit längst unlesbaren Adressen und Telefonnummern von Menschen verschlingen, die sie irgendwann einmal irgendwo getroffen haben müssen, und die sie eigentlich nicht vergessen wollten.... -nein, Paul Maria Kerns Aktentasche ist kein Chaos, sondern ein wohlgeordneter Mikrokosmos, an dem alles seinen festen Platz hat. Darüber hinaus erzählt Paul Maria Kerns Tasche Geschichten. Da ist zunächst einmal die so genannte »Agenda«: ein in Leder geschlagener Monatskalender im DIN A5-Format, in dem der Grafiker alles einträgt, was ihm an seinen lieben langen Tagen so passiert. Es gibt in diesem Buch die so genannten »Bleistifttermine« und die »Tintentermine«. Die Bleistifttermine beziehen sich auf die Zukunft: Der geplante Theaterbesuch, das Treffen mit Freunden bei Alimentari, der Termin bei einem Kunden wird zunächst mit Bleistift eingetragen. Sobald sich diese Termine in Ereignisse, also in die Vergangenheit verwandeln, werden sie ausradiert und mit Tinte festgeschrieben. Wo vorher »Montag, 14 Uhr, Zahnarzt« stand, steht nun: »Beim Zahnarzt gewesen. Sieben Spritzen. Habe am Abend zum ersten Mal in meinem Leben Rotwein mit dem Strohhalm getrunken.« Oder da steht: »Im Yorck gewesen. Ziemlich beste Freunde gesehen. Tränen gelacht.« Während die zukünftigen Termine Paul Maria Kerns in eintönigem Grau erscheinen, sind die »Tintentermine« in roten, blauen oder schwarzen Lettern verfasst. Die schwarzen Eintragungen allerdings sind keine Termine im eigentlichen Sinne, sondern Kommentare und philosophische Ergänzungen zum Alltagsgeschehen, Zitate aus Büchern und Filmen, chinesische Weisheiten aus chinesischen Restaurants. Die blauen Eintragungen sind Arbeitstermine: »18 Uhr: Tempelhofer Ufer, Datenversand Atlantic Times. Alles geklappt, sehr schön!« Die Buchstaben für das Privatleben tragen die Farbe rot. Rot wie die Liebe. Diese Eintragungen könnten für eine Spur von Unordnung im Leben von Paul Maria Kern sorgen und die schön strukturierte »Agenda« durcheinander bringen. Eine rote Eintragung hatte tatsächlich einmal bewirkt, dass der Grafiker morgens nicht zur Arbeit erschien. Eine solche Eintragung könnte sogar die Ursache für ein zerknittertes Hemd sein, das es im Leben des Paul Maria Kern eigentlich gar nicht gibt. Beunruhigende Veränderungen sind eher selten im Leben von Paul Maria Kern, und seit der junge Mann das möblierte Zimmer bei Oma Peeske in Schöneberg verlassen hat, die dem jungen Untermieter aus Angst vor einem Wohnungsbrand das Bügeln untersagte, bügelt er beinahe täglich sowohl Hemden wie Taschentücher. Er liebt den Duft frisch gebügelter Wäsche, er signalisiert dem Mann: Die Welt ist in Ordnung. Er kann noch so spät am Abend heimgekommen sein: Am nächsten Morgen sieht man ihn am Bügeleisen stehen. Foto: Privat
Noch heute hat Paul Maria Kern so ein Heftchen für die wichtigsten Dinge des Lebens in seiner Tasche. Er hat es mit einem »Apple« dekoriert und nennt es sein »Notebook«. Dabei ist es eigentlich kein Notizbuch, sondern eine Art Faltmappe, ein kleines Heftchen mit verschiedenen Fächern, in denen alles nach Bedeutung sortiert ist: Im ersten befinden sich Ausweise, im zweiten Geld und Geldkarten, im nächsten ein Fahrplan und ein Stadtplan, dann ein paar Buchtipps, Zeitungsrezensionen, Gedichte – für die Warteminuten an der Bushaltestelle. Und immer steckt irgendwo dazwischen noch ein kleiner Streifen Papier d‘Arménie, ein mit Harz getränktes Papier, dem der starke Duft von Weihrauch entströmt. In der letzten - oder auch ersten - Spalte des Fächers aber befinden sich fünf Fotografien: Kleine Schwarzweiß-Aufnahmen vom Elternhaus mit der Pergola und dem Haselnussstrauch im Garten, unter dem er einmal saß, mit Lederhosen und aufgeschrammten Knien. Seit das Haus verkauft wurde, ist er nicht mehr im Breisgau gewesen. Eine Freundin hatte erzählt, dass nichts mehr sei wie früher. Doch Paul Maria Kern wollte, dass alles so blieb wie früher. Also entschied er sich, das alte Bild des Hauses in seinen Erinnerungen und in seiner Handtasche zu bewahren. Doch nicht das ganze Leben passt in so eine Aktentasche. Nicht alles ist so wunderbar aufgeräumt wie die Werkstatt des Vaters, nicht alles lässt sich in akkurater Schönschrift eintragen. Niemand, der in der »Agenda« blättert und mit ihrem Autor spricht, würde ahnen, dass die Klassenkameraden ihn einst als »Stotterkatz« verhöhnten. Paul war immer viel zu aufgeregt zum Sprechen, wenn er aufgerufen wurde. Und nirgends in der Aktentasche findet sich eine Spur jener Lehrerin, die ihm mit dem Bambusstöckchen auf die Finger schlug, weil er mit der Linken schrieb, anstatt mit der Rechten. Der kleine Paul aber sagte sich: »Jetzt erst recht!«, und verwandte all seinen Ehrgeiz darauf, nun auch noch mit Rechts eine Eins in Schönschrift zu bekommen. Er schaffte es. Und Pauls Liebe zur Typographie war geboren. Am 27. September 1965 betrat er mit einem großen Koffer und einem Glas Erdbeermarmelade - einem letzten Gruß der Mutter - die PanAm-Maschine nach Berlin, um bei der Druckerei Könitzer anzufangen. Die ersten Lehrjahre hatte er bereits hinter sich, jetzt wollte er Grafiker werden. Wenn er nicht reden konnte, dann sollten die Bücher für ihn sprechen. Der Vater hatte ihn ziehen lassen, »in Gottes Namen. Aber ich werde dich nie dort besuchen!« Paul Maria Kern hatte erwartet, dass ihn der Taxifahrer am Flughafen auslachen würde, sobald er den Mund aufmachte: »Kö-kö-kökönitzer, Be-be-be-berliner Straße...« Doch der Taxifahrer lachte nicht. Kaum hatte Paul seiner Lehrerin, den Schulkameraden, dem Vater und dem ganzen Breisgau den Rücken gekehrt, begann das Leben. Paul stotterte nicht mehr, er sprach wie ein Buch. Vielleicht war es dieser Tag, an dem er zum ersten Mal ausrief: »Ach, ist das Leben schön!« Er wohnte bei Oma Peeske zur Untermiete, fuhr mit der »wunderschönen Enkeltochter« in einem weißen Porsche-Cabrio und ging in der Dachluke am Mehringdamm zum Tanzen. Bis sie um zehn Uhr die noch nicht Volljährigen wieder aus dem Verkehr zogen: »Paul Kern bitte zum Ausgang!« Aber mit 19 war es dann soweit. Hätte er damals schon dieses Lederbuch gehabt, dann hätte er jetzt einen Namen mit dicker roter Tinte eintragen müssen. Einen Namen, der eine ordentliche Unordnung in das geordnete Leben des Mannes mit der schönen Schrift hätte bringen können. Sie hieß Renate, arbeitete im KDW und kam aus Ulm. Es gab noch viele Frauen nach ihr, die das Leben des Grafikers hätten verändern können, immer wieder zogen der Hut und die roten Hosenträger über dem blütenweißen Hemd die Aufmerksamkeit schöner Frauen auf sich. Aber Paul Maria Kern bügelte in aller Ruhe weiter, und er ging jeden Morgen weiter brav zur Arbeit. Er hing an seiner Ordnung, seinen Bücher, seinen Buchstaben. Seit er in Tempelhof gelandet ist, hat er in vielen Druckereien gearbeitet. Irgendwann gründete er »Kern-Design«, jetzt arbeitet er manchmal an der Seite von Theo Sommer, dem ehemaligen Chefredakteur der ZEIT, entwirft die Seiten für die monatlich erscheinende Atlantic Times und die German Times. Er gestaltet den Briefwechsel von Peter Gauweiler und Christian Ude, und er brütet drei Tage lang über dem Buchdeckel für »Wagners Wörter«, holt immer wieder Stift Foto: Privat
Kein Tag fehlt in dem ledernen Tage-Notizbuch des Paul Maria Kern. Es ist eine lückenlose Geschichte. Die lückenlose Geschichte des Paul Maria Kern. Selbst Anrufe, eingehende und abgehende, hat der Buchführer akribisch vermerkt. Schon der Meister Blechschmitt in der Freiburger Druckerei legte besonderen Wert auf Ordnung. In Berlin dagegen legten die Drucker besonderen Wert auf die politische Haltung. In Berlin lernte er all diese wichtigen Sätze der Setzer und Drucker, die in den Siebzigerjahren kursierten: »Wir waren 1848 die Speerspitze!« Oder: »Das Blei in den Setzkästen hat mehr verändert als das in den Gewehren!« Oder: »Was wir machen, hält lange. Manchmal sogar ewig.« Paul Maria Kern ist stolz darauf, auch nach 45 Jahren nicht einen einzigen Auftrag von der CDU angenommen zu haben. So ist er sich und seiner Ordnung immer treu geblieben, der Lauf des Lebens ist geregelt. Obwohl es im Logbuch des Herrn Kern keine sich regelmäßig wiederholenden Termine gibt, kein Sport, kein Skat, keine Kirche, keine Chorproben. Ausgenommen den einen roten Wochenendtermin: »Samstag14 Uhr, Mittagessen mit Daniele bei Alimentari«. Dieses Mittagessen zieht sich meist bis zum Abend hin und geht nahtlos ins Abendessen über. An solchen Abenden kann es passieren, dass Paul Maria Kern diesen Satz wieder einmal ausruft: »Ach, ist das Leben schön!« Foto: Privat
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