Kreuzberger Chronik
Dez. 2012/ 2013 - Ausgabe 143

Kreuzberger
Ljiljana Manuela Petrowic Krause

Ich wollte immer cool sein


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von Hans W. Korfmann

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Als Manuela Krause 1991 nach Berlin ging, um an der Schauspielschule in Potsdam ihre Karriere als Schauspielerin zu starten, war sie schlicht verwundert, als der Dozent ihr mitteilte, dass sie für die Bühne »ein bisschen zu groß« sei. Die Männer schrumpften neben ihr zu Zwergen. Also sortierte man sie aus. Wieder einmal. Sie kannte das, schon in der Schule war sie »immer die Außenseiterin gewesen«, hatte »kaum Freunde«, wollte »immer dazugehören« und gehörte doch nie dazu. »Die andern waren alle so cool, ich war nie cool.« Sie trug mit Spitzen besetzte Oma-Kleider, zog sich in Fantasiewelten zurück, träumte, las, sang, ging ins Kino. Sie war anders.

Da man sie in Potsdam nicht haben wollte, ging sie zu einer Agentur, spielte kleine Rollen, bis sie eines Tages im Nadelstreifanzug in einem Café am Landwehrkanal saß und eine Frau am Nebentisch sie ansprach. Manuela war anders, aber sie war »genau der Typ«, den die Regisseurin suchte. Wenige Monate später sah man Manuela Krause auf der Berlinale und in den Kinos der Hauptstadt in der Hauptrolle der Esther. Der Film erzählt den allmählichen Zerfall einer Frauen-WG, eine Geschichte, die Manuela nicht ganz unbekannt war.
Denn die »Außenseiterin« und ständige Quereinsteigerin hat in vielen WGs gelebt, in Köln, London, Berlin, überall. Sie war es gewohnt, nachts nackte Männer auf dem Klo anzutreffen, fremde Frauen, die sich in der Dunkelheit in ihr Zimmer verirrten, Stadtstreicher, die vor der Tür im Treppenhaus saßen und ein Schnitzel aßen. Es war unterhaltsam, das Leben, aber immer wieder zog sie weiter, immer wieder zog sie um. Ruhelos. 32-mal allein, seit sie in Berlin ist.
Doch nicht nur die Orte, auch ihre Berufe wechselte sie ständig. Nach dem Filmen wandte sie sich der Musik zu. Nächtelang legte sie im WMF, in dem damals noch das gesamte Mobiliar des Palastes der Republik herumstand, Platten auf. Der Bildhauer Fred Rubin hatte, als er die Möbel auf der Baustelle herumstehen sah, nachgefragt, ob er die mitnehmen könne. »So viel, wie du tragen kannst«! Also kam er ein paar Stunden später mit ein paar Freunden, die viel tragen konnten. Und so wanderte das komplette Honeckerzimmer vom Palast in den Technoclub, in dem Manuela auflegte, bis morgens um vier oder um neun. Sie bespielte die Lounge mit allem, was ihr in den Sinn kam, mit deutschen Schlagern, Sixties, Chansons, Techno und Jazz. Sie war längst cool, viel cooler, als alle ihre Schulkameraden es jemals waren.

Aber Manuela konnte nicht nur Schauspielen und Auflegen. Sie konnte auch Köpfe waschen. Bei JonnyCut unter den Yorckbrücken. Sie wusch aber nicht nur die Kundenköpfe des Kult-Frisörs, sondern sie zündete Kräuterbündel mit Salbei und anderen stark duftenden Pflanzen an, stieg Shantys singend auf eine Leiter, um die Ecken auszuräuchern, in denen sich die schlechten Schwingungen schlecht gelaunter Kunden einzunisten drohten. Erst wenn Manuela die Harmonie im Raum wieder hergestellt hatte, konnte der Frisör ans Werk gehen. Jonny war zufrieden mit Manuela »als spiritueller Reinigungskraft«, lediglich das viele Patschouli müsste ihn irritiert haben. »So wie andere morgens Zähneputzen, bespritze ich mich erstmal mit Patschouli. An den Händen, im Nacken, an den Füßen, wo es mir gerade passt.« Vor Jahren hat sie sich in diesen »gruftigen, modrigen« Duft der Siebziger verliebt. Ohne ihn geht nichts mehr.
Es war nett bei Jonny, aber irgendwann musste sie weiter. Sie war ja auf der Suche. Immer schon. Sie wusste nur nie, wonach sie eigentlich suchte. Und während sie so suchte, traf sie die Leute vom Jazzradio. Auflegen hatte sie gelernt, sprechen konnte sie auch, also zog sie wieder diesen Nadelstreifanzug an, ging ins Studio und sagte: »Ich bin Manuela Krause, ich möchte als Moderatorin arbeiten.« - Das war schon wieder ziemlich cool, aber der Chef fragte, was jeder Chef gefragt hätte: »Haben Sie so was schon mal gemacht?« – »Nö!«, sagte sie, »aber ich will das und ich kann das.« Sie konnte es. Vier Jahre lang moderierte Manuela Krause die Morningshow und die Abendschau, kam vom Dancefloor im WMF direkt ins Studio, interviewte Musiker, las Texte, improvisierte, legte auf. Es war ein prallgefülltes, wildes Berliner Leben, ihre Klassenkameraden würden sie beneiden, wüssten sie, was aus dem schüchternen Mädchen mit den altmodischen Klamotten geworden ist. Doch dann kam der neue Marketingchef des Senders und ließ Kameras im Studio installieren, damit die Fans ihre Radiomacherinnen im Internet live betrachten konnten. Er schickte die gesamte Mannschaft in einen Schminkkurs, machte ausgeschnittene Dekolletés zur Kleiderordnung und installierte Webcams im Studio. »Und die Musik wurde immer nebensächlicher!«
Also musste sie weiter. Jazz war ja auch gar nicht ihre Musik. Sie war »eher elektronisch« unterwegs. Es sei denn, sie machte selbst Musik. Spielte ihre Melodika, dieses Kinderinstrument, und schrieb Lieder für ihr Ljiljana Petkovic Orchestra: Das »Lied vom einsamen Mädchen.« Oder das Lied vom »Ende der Welt.« Oder das Lied vom Spiegel, von diesem »Mädchen auf der anderen Seite, du kennst sie doch, und kennst sie nicht, das Mädchen auf der anderen Seite – du bist doch immer vor ihr weggerannt.«

Das Mädchen hinter dem Spiegel heißt Ljiljana Petkovic. Sie hatte immer nach ihm gesucht, im Spiegel, hinter dem Spiegel. Als sie zwölf Jahre alt war, trat es endlich hervor. Und sagte, dass Manuela nicht ihr einziger Name war. Dass sie noch einen zweiten Namen hatte. Ljiljana, die Lilie. Dass ihre Mutter den Säugling im Krankenhaus zurückgelassen hatte und nach Bosnien gegangen war. Und dass die Krauses nicht ihre wirklichen Eltern waren.
Zuerst wusste das Mädchen nicht, was es mit dem neuen Namen anfangen sollte. Er war ihr fremd. Er war keine Antwort auf die Fragen, die sie schon so lange und drängend beschäftigt hatten. Also ist sie dem vertrauten Namen treu geblieben. Blieb die Manuela Krause aus Bockum-Hövel. Die Manuela aus den WGs, die Manuela vom Jazzradio, von Jonny und vom WMF. Aber als sie plötzlich Erfolg hatte mit ihren eindringlichen Liedern, als sie einen Namen brauchte für ihr kleines Orchester, und als sich »Manuela Krause Orchester anhörte wie eine Fernsehband aus den Sechzigern«, da fand sie eine Verwendung für den Namen, der ihr so lang so fremd war. Und nachdem sie die CD aufgenommen hatten, nachdem Radio Eins ihr eine ganze Sendung gewidmet hatte, nachdem sie in Berlin aufgetreten und durch Österreich und Litauen getourt waren, als sie längst so cool war, dass ihre Schulkameraden stolz wären, wenn sie mit ihnen einen Kaffee trinken würde, da war dieser Name plötzlich auch überall im Internet präsent. Sogar im fernen Russland lernte man sie kennen.
Und als Ljiljana gerade »irgendeinen todlangweiligen Job« in London hatte, meldete sich ein junger Mann aus Sibirien. »Möchtest du durch Sibirien touren?« – »Klar, wann gehts los?«, schrieb sie zurück, und war sich sicher, dass nichts weiter passieren würde. Zwei Tage später hatte sie die Tourdaten auf dem Tisch, Flüge, Hotelbuchungen und ein Ticket für die Transsibirische Eisenbahn. 20 Stunden saß sie im Zug, allein, ohne ihr Orchester, nur mit ihrer Melodika, und mit einer Dolmetscherin an ihrer Seite. Sie spielte in der »Truba« in Novosibirsk, drang immer tiefer in das Land ein, immer weiter nach Osten, kam in eine Stadt, wo sie sich auf großen Plakaten wiederfand, wo sie mit ihrer kleinen elektronischen Kinderorgel und ihrer Melodika plötzlich auf einer riesigen Bühne saß, nicht in dem grünen Kleid, das sie sonst immer trug, sondern in einem weißen Hochzeitskleid. Saß da vor unendlich vielen fremden Menschen und sang das Lied vom einsamen Mädchen. »Das war wirklich unwirklich, wie im Film! Ich hab anderthalb Stunden lang Autogramme geben müssen.«

Eine Woche tourte sie durch Sibirien. Das machte ihr nichts aus. Ihr Leben war ein Abenteuer. Sie war nie zuhaus. Sie reist gerne. Sie sucht noch immer. Nur eine Reise ist da, die sie noch immer nicht angetreten hat, und auf die sie schon so lange gehen möchte, seit vielen Jahren schon. Es ist eine Reise ans Ende der Welt. Denn seit sie eines Nachts im WMF einen jungen Mann aus Belgrad traf, wusste sie, dass ihre Mutter lebte. Irgendwo in einem kleinen Dorf in Bosnien.
Jetzt hätte sie alle diese Fragen stellen, Antworten finden können. Aber Ljiljana Petkovic zögerte noch. Zögerte so lange, bis der Serbe wieder untertauchte im Gewimmel des Technoclubs, im Getümmel ihres Lebens. So verlor sich die Spur. Aber das Schicksal gab ihr eine zweite Chance.
Kurz nach dem Krieg war sie mit dem WMF in Sarajewo eingeladen, um in einem Amphitheater aufzulegen. Ein Jahrzehnt später stößt ein Radiomoderator, der die Berlinerin nicht vergessen hat, auf die Internetseite des Ljiljana Petkovic Orchestra. Manuela erzählt ihm ihre Geschichte, woraufhin er sich unverzüglich auf die Suche nach der Mutter der Ljiljana Petkovic macht. Er findet sie in einem ärmlichen Dorf, »in dem vor kurzem noch die Öllampen rauchten«, und überbringt der Mutter, die mit einer Hacke im Garten zwischen den Kohlköpfen steht, einen Brief, »Sie wissen schon, von wem.« Sie nickt schweigend, steckt den Brief in eine Tasche ihres dunklen Rockes.

Monate später trifft die Antwort in Berlin ein. Ein Brief voller Entschuldigungen, mit den Worten endend: »Jetzt kann ich beruhigt sterben. Deine für immer unglückliche Mutter.«
Seit dem Januar liegt dieser Brief in der Schublade. Sie war sich nicht sicher, ob sie fahren sollte. Aber am 5. November hat sie ihr Tic-ket gekauft. Obwohl sie weiß, dass sie das, was sie eigentlich sucht, nie finden wird. Sie wird eine alte, dicke, fremde Frau finden. An einem Ort am Ende der Welt. Einem Ort, den Ljiljana Petkovic schon besungen hat: »Das Ende der Welt ist ein kalter Ort, der Adler wacht, an seinem Hort, schlafe mein Kind, ich wieg dich im Wind.... - Das Ende der Welt ist zerbrochenes Glas, ein Goldfisch schwimmt, im Rosa Gras - Das Ende der Welt - ist ein dunkler Rock - ein zahnloses Weib- gebeugt am Stock- schlafe mein Kind, und hör, wie sie lacht- schlafe, mein Kindchen, und lausche der Nacht.« •


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