Dez. 2012/ 2013 - Ausgabe 143
Essen, Trinken, Rauchen
Sas im Stillcafé von Saskia Vogel |
Muttermilch hat den Vorteil, überall und jederzeit verfügbar zu sein. Das muss sie auch, denn Säuglinge sind unberechenbar. Sie wollen an die Brust, und zwar an jeder Kreuzberger Straßenecke. Und das dringend und zwar sofort. Jetzt zum Beispiel. Sas schiebt schwitzend den Kinderwagen über den Heinrichplatz, in dem das Kind sich die Seele aus dem Leib brüllt. Am liebsten würde sie ein Blaulicht am »KiWa« installieren: Lasst mich durch, dieser Saughunger duldet keinen Aufschub! Sas will kein späteres Borderline-Kind, dem es an Urvertrauen mangelt, sie muss ihr Kind »anlegen«. Nur wo? Soll sie ins »Bateau Ivre« gehen und sich vor den anwesenden Medienmachern und Wichtigtuern als Anfängermutti outen, die verzweifelt versucht, ihr bereits in Rage geschrieenes Kind »anzudocken«, dabei hektisch ihre Bluse hochreißt und die Stilleinlagen im BH verliert? Nein, Sas bugsiert ihren »KiWa« lieber durch die enge Tür des »Pfeiffers«. Dabei reißt sie den Ständer mit den Tageszeitungen um, für deren große Auswahl die Gäste den Laden lieben. Sas ist das egal. Seit sie unter Stilldemenz leidet, hat sie eh´ keine Lust mehr zum Lesen. Das »Pfeiffers« bewährte sich bereits während der Schwangerschaft, als sie jederzeit das Klo benutzen durfte, was etwa zehnmal die Stunde vorkam. Auch jetzt erweist es sich als ideales Stillcafé. Das verborgene Hinterzimmer bietet die nötige Diskretion, damit Sas sich freimachen kann. Zwar gibt es auf der Toilette keinen Wickeltisch, aber auf den Flohmarkt-Sesseln lassen sich hervorragend Feuchttücher ausbreiten. Dass ein paar Tropfen Urin dabei auf Nimmerwiedersehen im Polster versickern, wird keiner merken. Gierig dockt das Baby an der Milchquelle an. Die Kellnerin kommt, Sas sagt; »Ein Glas Vollmilch, was denn sonst.« Da keine weiteren Gäste anwesend sind, gibt es erfreulicherweise auch keine doofen Männer, die Sas auf die Brüste starren. Anderseits gibt es leider auch niemanden, der die Anwesenheit des Nachwuchses mit »Oh süß!«-Ausrufen honoriert. Und Sas endlich diejenige Aufmerksamkeit zukommen lässt, deretwegen sie sich dieses Baby mal angeschafft hat. »Nach jeder Mahlzeit aufstoßen lassen«, hat Sas gelernt und trägt ihr Baby wie einen nassen Sack den Bäuerchen-Parcours entlang. Das »Pfeiffers« ist schmal und lang und bietet eine anständige Laufstrecke. Prompt röhrt das Kind einen Schwapp »MuMi« auf den Pfeifferschen Fußboden. Sas geht davon aus, dass die Milchpfütze jemand anders wegwischt und legt den Nachwuchs zurück in den Kinderwagen. Mini-Sas schläft. Selig. Nur ein schlafendes Kind ist ein gutes Kind. Erleichtert und stolz auf ihre Heldentat hat Sas jetzt endlich die von Müttern so ersehnte »Zeit für sich«. Sie bestellt sich einen dickes Käsetoast und ein großes Malzbier. Schließlich soll das Gerstenmalz der MuMi-Produktion durchaus förderlich sein. • |