Dez. 2012/ 2013 - Ausgabe 143
Geschäfte
Der Kunstgriff von Erwin Tichatschek |
Jahrelang war Ina Simson arbeitslos gewesen, verbrachte ganze Tage damit, Bewerbungen zu schreiben. Am Ende hatte sie immer noch keine Arbeit. »Das kann es doch nicht gewesen sein!«, sagte sich die junge Frau, sprang mutig in die Selbständigkeit und mietete ein Souterrain in der Riemannstraße, das seit Jahren leer stand. Sie strich die Wände weiß, ließ einen Fußboden und Stromkabel verlegen und richtete im hinteren Raum eine Werkstatt, und vorne einen Verkaufsraum ein. Eine Werkstatt, in der sie nun täglich an ihrem eigenen Arbeitsplatz sitzt und mit Karton, Papier und Klebstoff Spiele zusammenbastelt. Zum Beispiel eine Art »Mensch-Ärgere-Dich-Nicht«, dessen Kreuzberger Variante »Vorsicht Rausschmiss« heißt. Ein Titel, der in den Zeiten regen Immobilienhandels unverhofft aktuell geworden ist. Oder sie sitzt an einem Kreuzberg-Monopoly, einer politisch korrekten Variante des Immobilienpokers, bei der die Schloßstraße zur Bergmannstraße wird, und auf deren Aktionskarten nicht steht, dass man wegen zu schnellen Autofahrens, sondern wegen Randalierens auf der 1. Mai-Demo 350 Euro Strafe zahlen soll. Oder »Es ist Karneval der Kulturen, Du versumpfst und musst einmal aussetzen.« Oder »Du hast einen Stand auf dem Trödelmarkt am Marheinekeplatz und nimmst 200 Euro ein.« Am erfolgreichsten von ihren Spielen sind die selbst kreierten Memory-Spielchen mit Motiven aus der Bergmannstraße, der Oranienstraße oder dem Karneval der Kulturen. Bei der Kreuzberger Variante des Gedächtnistrainings geht es allerdings nicht darum, zwei gleiche Bilder zu finden, sondern zwei Bilder, die irgendwie zusammengehören oder sich ergänzen. Da steht dann zum Beispiel auf der ersten Karte »Leisten« und auf der zweiten Karte »Schlumm«. Natürlich sind die alten Kreuzberger klar im Vorteil bei dieser »Kreuzberger Paarsuche« gegenüber den Neuankömmlingen im Szenebezirk, die den Schlumm´schen Werkzeugladen womöglich nie betreten haben. Auch nach der zweiten Hälfte zu »Ham« werden die Kreuzberger Neuzugänge wohl lange suchen müssen, es sei denn, sie sind leidenschaftliche Krimileser und haben auf einem ihrer Samstagseinkäufe in der Markthalle tatsächlich die wenigen Quadratmeter der Krimibuchhandlung gegenüber entdeckt. Auf den Märkten hatten die kleinen Bildchen der Kreuzberger Memory-Variante mit Motiven aus vertrauter Kreuzberger Umgebung einen guten Absatz gefunden. Allerdings warfen Papier und Pappe in den regenreichen Jahreszeiten hohe Wellen. Mehr als nur ein Spiel, das sie mühselig zusammengeklebt hatte, musste die Spielemacherin wieder einstampfen, weil es unansehnlich geworden war. Ihre Spielesammlung brauchte also dringend ein Dach über dem Kopf. Und da kam ihr das Souterrain in der Riemannstraße gerade recht. Weil aber die Miete in Kreuzberg nicht mehr so günstig ist wie in den Achtzigerjahren, entschloss sie sich, Teile ihrer Wände und ihrer Räume an andere Kreuzberger Künstler und Kunsthandwerker zu vermieten. So haben sich inzwischen Maler, Schmuckdesigner und Fotografen bei ihr eingefunden, hängen Bilder an die Wände und legen Schmuck in die Vitrinen. Das Souterrain mit dem Namen »Kunstgriff« ist ein Ort kunstvoller Ideen, es gibt originell bedruckte Geschirrtücher, Seifen in Filzkissen, Herzen, weder aus Lebkuchen noch aus Gold, sondern aus Ton, mit buntem Papier beklebte oder bemalte Marmeladengläser, die aussehen wie kleine Laternen, Kirschkernkissen, Leinsamensäckchen mit Lavendel, Schnuffeltücher für Babys und Sportbeutel, die sich wie ein Schal um die Schulter legen, ohne dass die Kordeln in die Schultern schneiden, sowie kleine Kondomtäschchen für den Hosenbund, wahlweise mit »Froh erwache jeden morgen«, Engelchen, Pünktchen, oder aber -ganz dezent- in klassischem, schottischem Karo. So ist alles im »Kunstgriff« von einer Art, die man sonst vergeblich sucht. Besonders glücklich ist Ina Simson über die wunderbaren, in alter Falajobi-Technik gebrannten Glasperlen von Anne Marie Francoise Mormon. Jede dieser Perlen, auf einem schwarzen Stück Samt von Licht angestrahlt, ist ein Kunstwerk für sich. Es schien ein gewagter Sprung von der Arbeitslosigkeit ins Souterrain der Selbständigkeit gewesen zu sein. Doch im Nachhinein sieht es aus, als wäre es ein gelungener Kunstgriff im Leben der Bastlerin gewesen. Denn in den Räumen, die so viele Jahre leer standen, ist Leben eingekehrt. • |