Kreuzberger Chronik
April 2012 - Ausgabe 136

Kreuzberger
Challa und Kane

Heimat kennt keinen Plural


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Challa kommt aus der Türkei, Kane kommt aus Uganda. Aber Challa und Kane sprechen dieselbe Sprache. Mehr noch: Sie sprechen wie aus einem Mund, mit dem gleichen Rhythmus, der gleichen Gestik, der gleichen Betonung auf den gleichen Silben. Wenn Challa und Kane sagen, was sie zu sagen haben, dann sind der Schwarze und der Weiße nicht mehr auseinander zu halten. Dann verschmelzen sie zu einer akustischen Einheit. Denn wenn Challa und Kane auf der Bühne stehn, dann kann jeder verstehn, dass Rap eine Sprache ist, die man so schnell nicht vergisst, weil man Sachen sagen kann, da kommt das Deutsche nicht ran.... - »Integration«, sagen Challa und Kane, »das Wort kann ich nicht versteh´n.«

Denn Integration ist ein Fremdwort für sie. Es geht um »Zusammenleben, nicht darum, jemanden irgendwo reinzuintegrieren.« Es geht um ein Miteinander. »Meinen Vater, den hätten sie integrieren sollen, dem hätten sie Deutsch beibringen sollen. Jetzt, fünfzig Jahre danach, haben sich die Leute hier doch alle schon eingerichtet, die Strukturen sind verhärtet. Ich bin doch hier geboren, im Urban, so wie alle Berliner Türken. Ich spreche Deutsch, und wenn ich mich hier im Wasserturm mit meinen Freunden auf Türkisch unterhalte, dann muss ich ständig zu Aslam oder Hakan gehen und fragen, wie das noch mal auf Türkisch heißt. In Deutsch passiert mir so was nicht mehr, meine Muttersprache ist Deutsch. Und dann reden die da oben von Integration, und dass wir besser Deutsch lernen sollen!«

Challa -früher hieß er Caglar Budakli -ist Berliner. Er ist hier geboren, aufgewachsen, jetzt unterrichtet er an den Schulen Rap und Hiphop und Breakdance. Er wird vom Spiegel interviewt und im ZDF porträtiert, auch in die Türkei hat man die beiden Rapper eingeladen, die Vorzeigekreuzberger, über die die türkische Hürriyet schrieb: »Menschen zwischen zwei Kulturen: Challa und Kane«. Eine Woche blieben sie, die Rapper von Berlin, wurden überall eingeladen, fast so wie echte Stars. Aber zurück in die Türkei wollte Challa trotzdem nicht mehr.

Auch Kane sagt, dass die Reise in die Türkei »super« war. Sie saßen im Flugzeug, das Ticket bezahlt, die Reporter warteten auf dem Flughafen, sie hatten das Gefühl, es geschafft zu haben. Aber sie haben es noch nicht geschafft. »Ich möchte mal leben können von meiner Arbeit!«, sagt Kane, der bald 30 ist, eine Tochter hat und eine Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondent in der Tasche, die nichts bringt. Manchmal bekommt er auf seine Bewerbungen nicht einmal eine Antwort. Auch Kane unterrichtet an den Schulen die Sprache der Straße, die Musik des Hiphop, und wenn die jungen Fans den Beiden genau zuhören, dann bemerken sie den Unterschied zwischen dem Sohn afrikanischer und dem Sohn türkischer Einwanderer, dann hören sie, bei allem Gleichklang, dass Kanes Stimme etwas dunkler, rauer, sanfter ist. Und wer, durch all den lauten Beat und den aggressiven Rhythmus, noch die Worte hört, die Kane spricht, der hört auch die leise Spur der Traurigkeit, die sich durch alle ihre Lieder zieht. Kane hat irgendwann »aufgegeben und eingesehen.«

Challa dagegen spricht schnell. Seine Stimme überschlägt sich. Challa greift an, er »rapt sich hoch« und »zeigt den Leuten«, was er »kann«. Seine Texte haben »wie ne Bombe eingeschlagen«, wie Maschinengewehrsalven reihen sich die Sätze aneinander, sein Leben ist ein donnerndes Stakkato: In der Schule bleibt er stecken, im Jugendclub prügeln sie sich, schon bald ist er einer der führenden Köpfe im Bandenkrieg zwischen den Wasserturmkids und den Kids aus der Villa Kreuzberg. Mit sieben entdeckt er den Breakdance, dreht er sich auf einer Hand und lässt die Beine in der Luft umherwirbeln wie ein Hubschrauber. Challa ist zum Hiphop geboren, an einem 15. September im Urban. Am 16. September, vierzehn Jahre später, wird er verhaftet. Der Richter hat nur darauf gewartet, dass der Junge endlich strafmündig ist. »Die Richter waren schuld. Als ich wieder rauskam aus dem Knast, da war ich plötzlich ein stadtbekannter Gangster! Und die Rolle gefiel mir. Alle kannten meinen Namen, ich konnte gar nicht anders, als da weitermachen, wo ich aufgehört hatte. Dabei war ich unschuldig gewesen. Ich hatte nichts mit der Sache zu tun, Ehrenwort. Der Richter und sogar der Staatsanwalt haben sich später bei mir entschuldigt. Aber das hat mir dann auch nichts mehr geholfen.«

Die anderen Male, danach, das gibt Challa unumwunden zu, da hat er dann wirklich »richtig Mist gebaut.« Auch die zweieinhalb Jahre, die man ihm anlässlich seines 18. Geburtstags aufbrummte, waren »irgendwie gerechtfertigt. Und dann steh ich da in der Gefängnistür und habe Angst und frage den Wärter, ob ich nicht vielleicht draußen noch eine letzte Zigarette rauchen kann, -ich wollte irgendwie noch mal einen Blick nach draußen werfen -und dann sagt der Typ: Diese Tür wird sich die nächsten zweieinhalb Jahre für dich nicht mehr öffnen.«

Challa, gerade achtzehn geworden, saß in der Zelle, acht Quadratmeter, und weinte. Sein Vater kam, um ihn zu besuchen, die Chemotherapie hatte ihn alle Zähne gekostet, »ich habe ihm zu viel Kummer gemacht.« Aber der Sohn konnte den Vater nicht mehr in den Arm nehmen, er konnte sich nicht einmal richtig entschuldigen. Eine Glaswand trennte die beiden.

Auch Kane konnte seinen Vater nicht mehr in den Arm nehmen, als er noch Kenan Matovu hieß. Der Vater lebte mit einer anderen Frau und mit anderen Kindern. Nicht einmal die Mutter konnte der kleine Kenan in den Arm nehmen, denn Kenan war noch in Uganda, und die Mutter war schon in Deutschland. »In jedem Flugzeug, das ich am Himmel sah, war meine Mutter drin. Jedes Mal dachte ich, das ist sie, jetzt kommt sie. Drei Jahre lang...« Am 31. Dezember 1991, Kenan war sieben Jahre alt, brachte ihn eine Tante endlich nach Deutschland. Der Onkel war an Aids erkrankt, und sonst war da niemand, der sich um den Jungen hätte kümmern können. Er wäre verloren gewesen.

Aber auch die Mutter hatte es schwer. Sie war allein, und sie musste Kane und seine Geschwister alleine großziehen. »Wir haben das nie gehabt, dass da jemand morgens aus dem Haus zur Arbeit ging, um Geld zu verdienen und eine Familie zu ernähren. Meine Mutter war schon viele Jahre in Deutschland, aber sie haben ihr keine Arbeitserlaubnis gegeben. Jetzt erst, und jetzt ist sie schon über fünfzig, darf sie endlich eine Ausbildung machen. Irgendwas ist hier richtig schief gelaufen. Die Klasse fuhr nach Prag, aber ich musste zuhause bleiben, weil ich kein Visum bekam. Es ist kein Wunder, wenn ich allmählich bitter geworden bin.«

Kane resigniert. Kane singt: »Vaterland, du weißt, dass ich noch existiere, und dass ich traurig bin und täglich hunger´ und erfriere...« Aber Challa kämpft. Challa gibt nicht auf, Challa singt: »Na gut, ich fang an, euch was übers Leben zu erzählen...« Und dann erzählt er, wie er schon als Kind in den Berliner Ruinen nach Patronenhülsen grub, wie kein Tag ohne Prügelei verging, wie er nachts mit den Kumpels durch die Belüftungsschächte in die U-Bahn-Tunnel hinabstieg und die Züge besprühte. Das gehört dazu, zum Rap, zum Breakdance, zum Leben. Es wäre zu langweilig gewesen, wenn da nicht ab und zu die Polizei ihre Schäferhunde auf sie gehetzt hätte.

Challa braucht Freunde und Feinde. Er ist ein Kämpfer, er spricht von der »anderen Liga«, vom »Aufstieg« oder vom »Abstieg«. Er war im Box-Club Viktoria, prügelte auf den Punchingball in der Rosegger-Schule ein, war Zweiter bei den Bezirksmeisterschaften im Leichtgewicht. Seine Nase ist aus Gummi, und seine Schädelplatte aus Stahl, seit ein verrückter Drogendealer versuchte, ihm den Kopf einzuschlagen. Mit 14 Hammerschlägen, von hinten. Die Ärzte gaben Challa keine Chance mehr, der Kopf war voller Blutgerinsel, die Familie kam, die Freundin, um Abschied von jenem jungen Mann zu nehmen, der so viel Mist gemacht hatte, und der so viel Pech gehabt hatte. Aber Challa ist Breakdancer, Challa kann am Boden liegen, und dann drehen sich die Beine wie Hubschrauberrotoren, und dann steht er wieder im Ring, bereit, weiterzumachen, aufzusteigen in die nächste Liga, wenn nicht mit Fäusten, dann eben mit Worten. Mit Musik. Mit seiner K.O.Muzik. Kreuzberg Original Muzik. Unter diesem Namen haben es die beiden Rapper immerhin bis ins Downloadsortiment des Mediamarktes gebracht. Sie sind ja nicht blöd.

Challa saß im Knast, in dieser acht Quadratmeter großen Zelle, gerade achtzehn Jahre alt geworden, und »eigentlich noch ein Kind«. Challa weinte. Das war nicht seine Welt, er passte nicht zwischen die echten Mörder, Dealer, Gangster. Für Challa war das alles nur ein Spiel gewesen, ein Film, aus dem er wieder raus wollte. Und dann kamen
diese Battlerapper von Royal Bunker in den Knast, und da kam Challa die Idee, seinen eigenen Rap zu machen, einen Rap, der nicht nur aus Flüchen und coolen Sprüchen besteht. »Ich wollte meine Geschichte erzählen. Ich habe was zu erzählen, ich muss das erzählen.« Und dann schaltete er das Radio an, ließ einen Beat laufen und fing an zu texten. Jahre später steht er in der Hornstraße in einem Hinterhofstudio und macht seine erste Aufnahme, er stellt die ewigen Frage »Warum? Weshalb? Wieso?« Es ist ein Sprechgesang, ein schneller Text zwischen Angriff und Verteidigung. »Warum, weshalb, wieso – ist mein Leben so falsch gelaufen? Hab ich noch eine Chance, oder ist meine Zeit schon abgelaufen...« Es ist der Text seines Lebens, der Versuch, endlich in einer andere Liga aufzusteigen: »Ich war noch jung und stand dem Tode nah, doch scheiß drauf, ich rap mich jetzt hoch und mach mein´n Traum wahr.«

An diesem Tag ist auch Kane im Studio. Kane, der schon von diesem Straßenkönig namens Challa gehört hat, und der nun Challas Stimme hört. »Vater, heute kannst du sehen: Dein Sohn hat nix umgebracht...« Und Kane antwortet: »Vater, du sagtest, ich wär nicht dein Sohn, doch heute bin ich groß und ähnel´ dir wie´n Klon.«

Es war an einem Freitag, einem 13., gewesen, an dem sie Caglar Budakli in sein neues Leben entlassen hatten. Es war der Tag, an dem sein Aufstieg begann. Als Caglar zu Challa wurde. Als der Schüler, von dem die Lehrerin sagte, es sei »schwer, das Potential aus ihm herauszuholen, das in ihm stecke«, zu einem jungen Lehrer wurde, der den Kindern eine neue Sprache beibrachte. Eine Sprache, die alle verstanden. Er holte etwas aus ihnen heraus, was die anderen Lehrer nicht aus ihnen herausbekamen. Sie hörten ihm zu, hingen an seinen Lippen, wenn er erzählte, aus seinem Gangsterleben, von seinen Abenteuern. Und davon, wie das alles beinahe schief gegangen wäre. Vier seiner Schülerinnen folgten ihm aus der Lenauschule bis in den Wasserturm an der Fidicinstraße. Es war ein großer Erfolg, als seine vier »Ladyshakers« es tatsächlich schafften, im Admiralspalast als Vorgruppe von Culcha Candela aufzutreten. »Er hat uns die Hand gegeben!«, quiekten die Mädchen, und Challa sagte sich: »Es ist nie zu spät, um noch mal von vorn anzufangen!«

Für Kane wäre es beinahe schon zu spät gewesen. »Manchmal stand« er »auf dem Dach und war kurz vor dem Krepieren«. Aber er ist nicht abgestürzt. Er ist noch da und singt davon, dass seine Hautfarbe nur »Unglück« bringt. Irgendwann wird auch Kane noch mal von vorne anfangen. Da, wo seine Hautfarbe kein Unglück ist. Kane sagt, er würde auch mit 10 Millionen auf dem Konto nicht in Deutschland bleiben. Er sei wie ein wildes Tier, das man in den Zoo gesteckt hat. »Heimat«, sagt er, »kennt keinen Plural!« Es gibt nur eine Heimat!

Caglar Budakli war 20, als er zu Challa wurde. Wie alt Kane sein wird, wenn er wieder zu Kenan Matovu wird, ist nicht sicher. Sicher ist nur, dass Kane zurück muss, zurück nach Afrika. »Challa wird auch irgendwann zurückgehen, da bin ich mir sicher.«, sagt Kane. Challa lächelt und entgegnet nichts. Challa weiß, er wird nie zurück in die alte Heimat gehen. Denn auch Challas Heimat kennt keinen Plural. Und Challas Heimat ist Berlin. •

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