April 2012 - Ausgabe 136
Essen, Trinken, Rauchen
Doppelgänger in der Destille von Ernst Niemann |
Der Zapfer sah in die Runde und fragte: »Sonst noch jemand?« Aber Rest der Kundschaft sah noch einigermaßen standfest aus. Im Gegensatz zu dem Kunden, den er gerade heimwärts begleitet hatte. Dem war schon ganz schwindelig gewesen, weil er ständig zwischen diesen Doppelgängern hin- und herschauen musste, die plötzlich vor ihm auftauchten, sobald er jemanden ansprach. Das ganze Lokal war voller Doppelgänger! Vielleicht hatte er zu viel von diesen Schnäpsen getrunken, die der Zapfer ständig durch das Lokal trug: Randvolle Tabletts mit Korn, Kümmerling, lauter Getränke, die, wenn man sie gut mischte, am nächsten Morgen für Schmerzen im Hinterkopf sorgten, die nicht mehr von dieser Welt waren. Es war aber eine dieser kalten Nächte, in denen ein Trinker keine 10 Minuten auf einer Parkbank sitzen konnte, ohne augenblicklich für immer und ewig zu entschlafen. Und weil der Zapfer fürchtete, auf diese Weise einen seiner besten Stammkunden zu verlieren, hatte er ihn nach Hause begleitet. Dieser Lieferservice war selbstverständlich, hier kümmerte man sich um die Kundschaft. Die Destille gehörte nicht zu jenen Lokalen der Nachbarschaft, in denen die Kundschaft nach dem Zahlen gleich wieder ihrem Schicksal überlassen wurde. In der Destille konnte es vorkommen, dass man in Streit geriet wegen einer Braut, einer Zigarette, wegen der Politik – aber man hatte eine gewisse Achtung voreinander. Vielleicht lag es an diesem ehrwürdigen Eichenholzbuffet, das wie ein Altar ganz am Ende dieses schmalen Handtuchs lag. Vielleicht lag es aber auch daran, dass hier immer ganz fair Fußball geguckt wurde. Vielleicht lag es an den Kellnern, oder einfach nur an diesem Publikum aus lauter Individualisten, aus Piraten, Ehefrauen, Rockern, Autoren, Geschäftsleuten, Schauspielern und Schreinern. Hier war noch diese ganze Kreuzberger Mischung vertreten, und keiner nahm sich besonders wichtig. Auch nicht die Rothaarige, deren Jeans vom ewigen Hin- und Herrücken auf dem Hocker schon so weit über die Hüften gerutscht war, dass man der geheimnisvollen Mittellinie bis zu jenen Stellen folgen konnte, die man durchaus als intim hätte bezeichnen können. Doch während nebenan in der Bergmannstraße die Mädchen ihre Hosen und Blusen nicht ohne freundliche Absichten herunterrutschen ließen, merkte die junge Frau in der Destille gar nicht, wie sich die Männer hinter ihrem Rücken zu drängeln begannen. »Das ist wenigstens noch ne Kneipe hier!«, sagte sie und versuchte, sich eine Zigarette zu drehen. »Wo man neben ganz normalen Menschen in aller Ruhe sein Bier trinken kann. Mit ganz normalen Menschen, wo gibts denn sowas noch heutzutage...« Der Zapfer legte die Hand auf ihre Schulter und lächelte. Aber es war erst neun, und eigentlich viel zu früh für den Begleitservice. • |