September 2011 - Ausgabe 130
Strassen, Häuser, Höfe
Die Möckernstraße 68 von Werner von Westhafen |
1884 baute der Lampenfabrikant Kindermann in der Möckernstraße eine Fabrik. Sie wurde zu einem Künstlerhaus. Es scheint, als hätte sich dieses Haus verstecken wollen zwischen all den Miethäusern in der Möckernstraße, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts am Viktoriapark entstanden. Obwohl es nur zwei Stockwerke hat, fügt es sich nahtlos in die Häuserzeile ein, kein Garten und kein Zaun umgibt die Villa, deren Fassade sich kaum von den benachbarten unterscheidet, und deren Eingang neben den großen Flügeltüren der Miethäuser eher bescheiden ausfällt. Lediglich das Türmchen auf dem Dach und der stattliche Torbogen, der in die Fabrikhöfe führt, weisen darauf hin, dass hier das Anwesen des Lampenfabrikanten Kindermann lag, der vom Anhalter Bahnhof in die Möckernstraße gezogen war. Trotz aller Zurückgezogenheit der Villa schreiten immer öfter Touristen durch das Tor, um den Stadtgarten mit seinen Kastanien und der Freitreppe zu fotografieren. Sie lassen den Blick über die Terrasse im ersten Stock schweifen, auf der einst die Familie Kindermann nach dem Feierabend in der Abendsonne saß. Die Villa mit ihren vertäfelten Sälen und hohen Räumen, mit dem kunstvollen Parkett, den Flügeltüren und dem großen, zum Garten und dem hauseigenen Tennisplatz gelegenen Saal war wie geschaffen für abendliche Empfänge und kleine Konzerte. Das Leben der Kindermanns muss behaglich gewesen sein. Womöglich saß der Direktor bereits beim Kaffee auf der Terrasse und beobachtete die mächtigen Zeiger der Fabrikuhr. Es war kurz vor sieben, 400 Arbeiter drängten sich vor den Türen und stiegen die drei Aufgänge hinauf, um sich über die vier Stockwerke der Fabrikgebäude zu verteilen und Gas- und Petroleumlampen zu bauen. Das 20. Jahrhundert war noch einige Jahre entfernt, als die Architekten Blumberg & Schreiber 1883 die Villa der »Kindermann & Co. Lampenfabrik« entwarfen. Sie räumten ihrem Auftraggeber auf zwei Etagen, Dachgeschoss und Souterrain fast 800 Quadratmeter ein. Das Grundstück erstreckte sich bis zur Katzbachstraße. Dort hinten, am westlichen Ende des Grundstückes, kam nach der Erfindung der Zentralheizung noch ein weiteres kleines Häuschen hinzu: das Heizhaus. Heute hat Hausmeister Pfeffer hier seine Werkstatt. Früher »standen hier drei riesige Kessel, die Fundamente kann man noch sehen. Angefeuert wurde mit Kohlen, die Fuhrwerke kippten den Brennstoff durch den Schacht geradewegs in den Heizraum. Drinnen standen sie dann und schaufelten«, wie auf dem Schiff. Sie müssen ordentlich geschaufelt haben, die Heizer von der Möckernstraße 68, denn mit dem heißen Wasser mussten 4.000 Quadratmeter beheizt werden. Die Fabrik überstand den Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet. Lediglich der Südtrakt wurde in den letzten Kriegswochen von einer Bombe beschädigt. Foto: Dieter Peters
Der Glanz alter Zeiten ging im Krieg verloren, doch 1976 erwarb Dr. Hans Joachim Rust, der Testamentsvollstrecker von Heinz Ullstein, die Gebäude an der Möckernstraße, um den letzten Willen des Verstorbenen zu erfüllen. Heinz Ullstein, ein Spross der berühmten Verlegerfamilie, aber auch ein leidenschaftlicher Schauspieler und Theaterdirektor, war das einzige Mitglied der Familie, das nicht vor den Nazis geflüchtet war. Heinz heiratete die Tochter des Schriftstellers, Regisseurs und Theaterdirektors Ernst Gettke. Von den Nazis verfolgt, nachts zum Putzen der S-Bahn abkommandiert, überlebte Ullstein nur mit Hilfe von Freunden, die ihn versteckten. Mit dem Kauf der alten Lampenfabrik erfüllte sich der letzte Wille Heinz Ullsteins, der in seinem Testament verfügt hatte, mit seinem Erbe »in Not befindliche Schauspieler« zu unterstützen. Der Testamentsvollstrecker und die Axel-Springer-Stiftung verliehen dem Haus den Namen des Theaterdirektors Gettke und begannen in den Siebzigerjahren, Ateliers und Kulturbetriebe in den Fabriketagen einzurichten. Ins Erdgeschoss der repräsentativen Villa zog die Galerie des Spediteurs Dümmen ein, der einzige Bewohner der Villa war der Butler des Spediteurs. In die Hinterhöfe zogen Künstler ein, Werbeagenturen, Gartenarchitekten sowie »Astrologen und Bauchtänzer, Schwimm-Taucher, studentische und alternative Wohngemeinschaften.« Seit dreißig Jahren ist die Kreuzberger Tanzfabrik auf zwei Etagen im alten Fabrikgebäude beheimatet. Auf dem Hof war längst kein Tennisplatz mehr, sondern die typische Kreuzberger Nachkriegsmischung, als eines Tages die Erben des ehemaligen Lampenfabrikanten vor der alten Villa standen. Sie waren gekommen, um die Glocke abzuholen, die einst im Turm den Arbeitstag und den Feierabend einläutete. Auch die alte Fabrikuhr haben sie mitgenommen, die Kindermann damals auf seiner Terrasse stets im Blick gehabt hatte. • |