September 2011 - Ausgabe 130
Geschichten & Geschichte
Bona Peiser von Werner von Westhafen |
Sie ist die Begründerin der öffentlichen Bibliotheken in Berlin. Doch ihre Geschichte ist weitgehend unbekannt. Niemand kann heute mehr sagen, wie sie genau aussah. Es gibt kein Gemälde, keine Zeichnung, keine einzige Fotografie von ihr – obwohl der Fotoapparat längst schon erfunden worden war, als die berühmteste Bibliothekarin Deutschlands am 17. März 1929 starb. Sie hat keine Kinder hinterlassen, keine Geschwister gehabt, lediglich einige Cousinen. Ihr Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee war lange vergessen, erst 65 Jahre nach ihrem Tod wurde es von der Leiterin jener Kreuzberger Bibliothek wieder entdeckt, die heute den Namen der fast Unbekannten trägt: Bona Peiser. Für all jene, die später über sie schrieben, ist das Jahr 1895 das wichtigste im Leben der ersten Bibliothekarin Berlins. In diesem Jahr eröffnete die »Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur« ihre erste öffentliche Bibliothek in Berlin. Zwar hatte bereits Friedrich Raumer, ein Berliner Professor für Geschichte und Staatswissenschaften, die Idee der amerikanischen »Volksbibliotheken« nach Deutschland getragen und den Bau erster kleiner Stadtbibliotheken bewirkt. Bei der Auswahl der Lektüre allerdings hatte der König persönlich ein Wort mitsprechen wollen und bestückte die Bestände vornehmlich mit Werken, »welche auf die Befestigung von Sitte, Glauben und Untertanentreue zielen.« Auch in den öffentlichen, von Lehrern verwalteten Bibliotheken in den Schulen, die den meisten Berlinern ohnehin fremd waren, war das Sortiment streng sortiert. Auch in England gab es bereits so genannte »Public Libraries«: große und moderne Bibliotheken, in denen eigens ausgebildete Bibliothekare auch den einfachen Bürgern die Kunst des Lesens vermitteln sollten. Als Bona Peiser nach ihrer Ausbildung an einer dieser Bibliotheken aus London nach Berlin zurückkehrte, schloss sie sich unverzüglich der »Lesehallenbewegung« an, deren Ziel die Einrichtung öffentlicher Bibliotheken war, die für jeden Bürger und jedes Buch offen waren. Bereits zwei Jahre später räumte die »Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur« in fünf großen Zimmern neben dem Volkskaffeehaus und einer Speisehalle in der Neuen Schönhauser Straße die ersten 500 Bücher in die Regale. Innerhalb eines Jahres wuchs der Bestand durch Bücher- und Geldspenden um das Siebenfache an. 50.000 Menschen besuchten allein im ersten Jahr die neue Bibliothek. Bona Peiser, der zunächst ein männlicher Kollege von der Königlichen Bibliothek zur Seite gestellt wurde, übernahm schon nach kurzer Zeit die alleinige Leitung und gab sie 35 Jahre lang und bis zu ihrem Tod nicht mehr aus der Hand. Sie zog mit ihren Büchern von der Neuen Schönhauser Straße zunächst in die Münzstraße und später in die Rungestraße, in den industriereichen Norden der damaligen Luisenstadt. Sie richtete die erste Kinderbibliothek ein und organisierte Märchenstunden an den Sonntagnachmittagen. Sie öffnete ihre Lesehallen für besonders Lesehungrige bis 22 Uhr am Abend, selbst am Sonntag konnte der Berliner wählen zwischen der Sonntagspredigt und einem guten Buch. Angesichts des großen Erfolges der Büchereien waren Stadt und Land beschämt und beeilten sich, eigene Volksbibliotheken einzurichten und auf eigens dafür geschaffenen Schulen Bibliothekarinnen auszubilden. Bona Peiser aber genoss den Ruf der geheimen Spiritus Rector der Bibliothekswissenschaft, ihre Bücherhalle galt als »Kaderschmiede«, und ein Praktikum bei Bona Peiser war noch immer eine Empfehlung der besonderen Art. Tatsächlich hat die Tochter des Buchhändlers trotz des alltäglichen bürokratischen Aufwandes nie das Ziel aus den Augen verloren, immer wies sie ihre Mitarbeiterinnen in die Geheimnisse des Bibliothekswesens ein: »Die Kunst der Ausleihe besteht (…) nicht darin, möglichst viele Bücher in möglichst kurzer Zeit zu expedieren; auch nicht darin, die Buchungen sicher und genau auszuführen; auch nicht darin, die Bibliothek vor Verlusten zu schützen. (…) Die Kunst der Ausleihe besteht darin, das rechte Buch an den rechten Leser zu bringen und die Schätze der Literatur weitgehend nutzbar zu machen.« Zu einer ihrer Praktikantinnen hatte sie einmal gesagt: »Das Buch ist gar nicht das Wichtigste, sondern der Mensch. Sie müssen sich mit den Menschen beschäftigen, Sie müssen deren Wünsche kennenlernen.« 1920 hatten bereits zwei Millionen Menschen die Bibliothek von Bona Peiser besucht, »täglich mehr als 220«. Sie hatten in den ersten 25 Jahren etwa 100.000 Bücher ausgeliehen. Dennoch musste das private, wenn auch von der Stadt unterstützte Unternehmen nach dem 1. Weltkrieg seine Autonomie aufgeben, zu hoch waren die Betriebskosten, denn mit der wachsenden Nachfrage mussten auch der Bestand und das Personal ständig erweitert werden. So wurde aus der Bibliothek der »Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur« eine städtische Volksbücherei. Die Leiterin aber blieb der Bücherei erhalten. Auch den Büchern in der Alten Jakobstraße Nr. 20 und 21, wo Bona Peiser seit ihrer Rückkehr aus London ehrenamtlich der Bibliothek des »Kaufmännischen Verbandes für Weibliche Angestellte« vorstand, hielt die Bibliothekarin die Treue. Bis in den Tod. Über 35 Jahre lang. So erfährt man Einiges über die Arbeit von Bona Peiser, nur das Privatleben der Bibliothekarin bleibt ein Geheimnis. Nicht einmal ein Bild gibt es von ihr. Vielleicht wird eines Tages in irgendeiner Schublade eine alte Fotografie auftauchen. Bis dahin bleibt nur eine Erinnerung, die in einem Nachruf kurz nach ihrem Tod erschien: »Ergriff sie das Wort (…), dann war ihr allgemeine Aufmerksamkeit gewiß, ihr Entbranntsein, die klare Schärfe ihres Geistes, die stets spürbare in sich ruhende Güte überwand die Hemmungen eines zarten, unscheinbaren Körpers«. • |