September 2011 - Ausgabe 130
Mein liebster Feind
Dritter Brief von Kajo Frings |
Sie sprachen Englisch und liefen Hand in Hand die verregnete Yorckstraße entlang, zwei Männer um die Sechzig mit Bierbäuchen und echten Glatzen. »Hier muss er gewesen sein: Hier war der einzige gottverdammte Fish & Chipsladen in dieser gottverdammten ganzen Stadt.« Doch als sie näher kamen und den ausgebreiteten Fächer der Stechpalme und den Olivenbaum sahen, der so groß war, dass ein ganzer griechischer Esel darunter Schutz vor dem Regen hätte finden können, als sie die Ansammlung von Blumentöpfen, Tischen und Sesseln sahen, in denen sich schlanke Mädchen räkelten, da sagte der eine: »Du, John, das sind doch keine Leute, die Fish und Chips essen!« Noch einmal keimte Hoffnung auf, als sie über dem Eingang nicht etwa »Herr Minnich« oder »Herr Münch«, sondern »Mr. Minsch» lasen, doch ein Blick durchs Fenster bestätigte die schlimmsten Befürchtungen der beiden Engländer: Keine qualmende Fritteuse, keine Fischfilets mit drei Salatblättern in der Vitrine, keine verknautschten gelb-, rot- oder braunfarbenen Plastikflaschen mit dicken Soßen. Stattdessen eine Küche mit großen, cremefarbenen Maschinen, Töpfen und Schüsseln. In einem cremefarbenen Regal über einem cremefarbenen Kühlschrank standen cremefarbene Dosen, eine cremefarbene Waage, und die kleinen Schränkchen sahen aus, als würde der Zahnarzt gleich nach dem Besteck greifen. Doch Mr. Minsch war kein Zahnarzt. Im Gegenteil: Er war Kuchenbäcker. Und zwar einer, der dem königlich-kaiserlichen Hoflieferanten an der Bartningallee um nichts nachstand. Er war ein leidenschaftlicher Kuchenbäcker, ein Mensch mit Passion, ein Idealist, und nicht einer dieser Langweiler, die in Scharen in die Bergmannstraße kamen, um noch ein überflüssiges Café mehr zu eröffnen. Mr. Minsch wollte nur backen, er reichte seine Kuchen durchs Fenster auf die Straße hinaus – zum Mitnehmen. Es war nur ein Akt der Höflichkeit, als er irgendwann Tisch und Stühle auf die Straße stellte. Die beiden Engländer aber, die den ganzen Weg von Wilmersdorf bis nach Kreuzberg gekommen waren, nur um ein paar frittierte Stücke Fisch mit ein paar öligen Kartoffeln zu essen, standen weiterhin ratlos vor der cremefarbenen Kuchenvitrine, in der mit schwarzem Kakaopulver bestäubte Schoko-Schoko-Torten lagen, cremefarbene Cremetorten unter bunten Schichten violetter, roter oder rosafarbener Beeren, ein sich hoch auftürmender Rhabarber-Quark-Streuselkuchen, eine Aprikosen-Schmandtorte, eine Spanische Vanilletorte und ein käsegelber Käsekuchen und eine himbeerfarbene Himbeertorte. Doch was war all diese bunte Tortenvielfalt gegen das Goldgelb eines gebratenen Fischfilets? Gegen diese triefenden, goldgelben Kartoffeln? Da fiel der Blick der Engländer auf eine Kneipe nebenan. Sie nannte sich Rat Pack und hatte keinen Fisch und keine Pommes, aber reichlich Bier. Und hundert Sorten Whisky. • |