Oktober 2011 - Ausgabe 131
Kreuzberger
Lisa Bassenge Nur fort!
von Hans W. Korfmann
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»Nur fort!« Sie ist hinter Gittern. Steht in der Arena, gefangen in einem Löwenkäfig. In einem kurzen, schwarzen Kleid mit weißen Punkten, das so leicht und flatterhaft aussieht, als könne man fortfliegen damit, als könne es sich zu einem Fallschirm aufblähen. Etwas unsicher schaut sie sich um, aber dann beginnt sie zu singen, ein bisschen zu tanzen dazu, und je verträumter und sehnsüchtiger ihre Stimme wird, mit der sie singt, um so mehr lächelt sie: »Nur fort. Lass uns abhauen, verschwinden, ’n polnischen machen… lass alles hier… du brauchst nicht viel… nur fort, nur fort… was gibt’s hier noch, was uns hält?« Es gibt, neben all den sehnsüchtigen Liedern und dem Träumen vom Fortlaufen, noch zwei kleine Töchter. Freunde. Einen Mann, der Romane schreibt. Fotos am Kühlschrank, von einem Musiker, den sie schon so lange kennt, und von ihrer Mutter, den Kindern, eine ganze Kiste voller Bilder, schwarz-weißen und bunten, alten und neuen, Vergangenheit und Gegenwart, und obenauf eine Fotografie ihres Vaters mit der Trompete. Es gibt vieles im Leben von Lisa Bassenge, das sie vermissen würde, wenn sie wirklich fort ginge. Selbst diese Wohnung im »letzten Haus« irgendwo im Wrangelkiez, mit diesem heruntergekommenen Treppenhaus voller Graffiti und diesem Großstadtduft von Urin und Alkohol in der Tür und diesen knarrenden, großen Zimmern im vierten Stock, die immer noch bezahlbar sind, selbst für Sängerinnen und Schriftsteller; dieses Haus, in dem so viele laute Türken wohnen, dass man ungehindert Musik machen, Feste feiern, sich streiten oder lieben kann. In das man sich zurückziehen kann. Die Sängerin braucht die Zwischenspiele des Alltags in diesem Bühnenleben. Sie braucht die Tage dazwischen, in denen sie Mutter, Frau, Hausfrau, Nachbarin, Mensch sein kann. Aber dann ist sie schon wieder fort, irgendwo, in Hamburg, Viersen, Frankfurt, überall auf »dieser großen Welt.« Dann muss sie einfach wieder los, »einfach gehn, Leine ziehn… nur fort, nur fort«… – Natürlich ist so ein Leben »voll anstrengend«, so ein »Halbzeitleben«. Manchmal fragt sie sich, warum sie das alles eigentlich macht. Die erste Antwort, die sie sich gibt, ist: »Weil ich nichts anderes kann«. Sie meint, sie habe eben nichts anderes gelernt an der Hanns Eisler Hochschule als Singen und Notenlesen. Aber sie hätte natürlich auch eine andere Schule besuchen können, sie hätte Schreinerin, Lehrerin oder Ärztin werden können. Berufe, die womöglich weniger anstrengend wären als der einer Musikerin, die durch die ganze Welt tourt, obwohl sie zwei Kinder hat. Aber es gibt noch eine zweite Antwort auf die Frage, warum sie sich das alles antut: »Weil ich mich nach so einem Auftritt – egal, wie schlecht es mir gerade geht – immer besser fühle.« Musik, Singen, Texten, das ist eine Befreiung für sie, ein Ausweg, den sie lange gesucht hatte. Sie wollte immer schon »fort, nur fort«, fliehen »vor der großen Stadt, die doch nichts mehr für uns übrig hat«. Lisa Bassenge konnte gar nichts anderes machen als Musik. Schon damals, als sie ihr Zuhause am Nikolassee so langsam zurück ließ und nach Kreuzberg Foto: Privatarchiv
Obwohl sie sich nie getraut hat, »bis ins Letzte zu gehen«. Sie war dennoch »total verloren«, pendelte schon damals zwischen den Welten, immer wieder ist sie »einfach abgehauen« und immer wieder heimgekehrt, in diesen Jugendclub in Zehlendorf, ins »Haus der Jugend«, in dem schon Peter Fox und seine Freunde probten, und in dem auch Lisa Bassenge irgendwann zu singen begann. Bis sie dann zum ersten Mal auf der Bühne stand und dieses Lied von dieser melancholischen Billie Holiday sang. Das Lied hieß »Loverman«, und es war eines der Lieblingslieder ihrer Mutter. Lisa sang es mit Herz, Lisa Bassenge singt immer mit Herz, sie kann gar nicht anders. Hört ihr, singt sie, »nicht mein Herz?«, dieses laute Herz, das alles übertönt – auch wenn »die Tauben picken als sei nichts passiert. Das Radio spielt, als sei nichts passiert«. Schon ihr erster Auftritt war ein Erfolg. Es gab keinen anderen Weg für Lisa Bassenge als den der Musik. Singen war ihre »Rettung«, ihr Notausgang. Ein Ausweg, den viele ihrer Freunde nicht gefunden haben. Ihre Rettungsinseln hießen Haschisch, Koks, Speed. Ihre Freunde haben keine Sprache gefunden für all das, was sie bewegte. Sie haben nie erlebt, wie schön es sein kann, all das hinaus zu singen. Sie haben keinen Erfolg gehabt, keine Kinder, keine Arbeit – manche haben nicht einmal das Leben mehr. Aber Lisa Bassenge lebt. Sie lebt und singt diesen eigenwilligen Großstadtblues, diese melancholische Symphonie aus Jazz und Chanson und Swing und Lisa Bassenge. Fünfzehn Jahre hat sie gebraucht, um ihre Stimme und ihre Sprache zu finden. Sie hat in Englisch und in Deutsch gesungen, Elvis und Madonna interpretiert, amerikanische Jazzlegenden und englische Popstars, sie hat Hildegard Knef und Sven Regener in ihrem Repertoire. Jetzt aber singt sie eigene Lieder. Jetzt ist sie ganz nah bei sich, bei dieser Frau, die nur in ihrer Musik zuhause zu sein scheint, die nirgends sonst Ruhe findet und immer wieder fort möchte, bei der »jedes Lied klingt wie adé – und selbst der Kellner im Café – schaut verschollen aus der Tür zur Straße raus«, – wenn Lisa Bassenge singt. Mit ihren Texten lässt sie aufhorchen. Selbst das Feuilleton der ZEIT glaubt, dass Lisa Bassenge kurz vor dem Durchbruch steht. Denn jeder, der ihr zuhört, der ein paar Worte mit ihr wechselt, ihr auf der Straße einmal in die Augen schaut, spürt, dass diese Frau es ernst meint mit jedem Wort, das sie singt. Dass diese Sängerin etwas hat, das alle wirklichen Künstler haben: Sie zweifelt. An sich. Obwohl man ihr das kaum zutraut, wenn sie auf der Bühne steht. Auch in den Videos strahlt sie »Eleganz und kühle Professionalität« aus, sie scheint sich ihrer Sache sicher zu sein. Doch die schönen Kleider, die hohen Schuhe, die Macht ihrer Haare sind mehr als nur Accessoires des Show-business: Sie sind Teil einer »Schutzhülle«. Denn Lisa Bassenge ist »furchtbar schüchtern«. Sie beneidet selbst die simpelsten Profis vom »ZDF-Wintergarten« um die Selbstsicherheit, mit der sie sich in der Garderobe rasieren, ankleiden, unterhalten. Lisa Bassenge kann »nicht einfach nur so aus dem Hut« plaudern. Lisa Bassenge hat nichts anderes gelernt. Sie kann eben nur singen. Und sobald der Vorhang hinter ihr fällt, ist sie unsicher. Es gibt Profis, die spielen ihre Rollen perfekt, Tag und Nacht, vor und hinter der Bühne. Lisa Bassenge dagegen ist immer echt. Sie pendelt noch immer zwischen den Welten, über dem Niemandsland zwischen Bühne und Wrangelkiez. Und wenn die beiden Welten einander zu nahe kommen, dann gerät sie in Verlegenheit. »Wenn ich im Publikum jemanden sehe, den ich kenne, wenn da plötzlich einer sitzt, von dem ich weiß, der mag mich nicht, dann komm ich vollkommen durcheinander.« Die Profis lässt das kalt. Sie blicken durch ihr Publikum hindurch, egal, ob da zwanzig sitzen oder zweitausend. Lisa Bassenge singt »am liebsten vor einem vollen Saal wohlwollender Fremder«. Dann ist sie für sich. Singt ihre Lieder von der Liebe und vom Leben, von den »Tauben, die picken, als sei nichts passiert«, und davon, dass der Mann »nichts kapiert«, und dass ihr lautes Herz niemand hört. Immer wieder singt sie von diesem Herz, das hin und her schlägt zwischen Glück und Unglück, Traum und Alltag. Und zwischen den immer gleichen, alten, drängenden Fragen. »Ich würde«, sagt Lisa Bassenge, »gern mehr schreiben. Texte, Bücher. Ich würde wirklich gerne Antworten geben«, sagt sie und lächelt ein bisschen. »Aber noch sind es lauter Fragen.« • |