Oktober 2011 - Ausgabe 131
Mein liebster Feind
Vierter Brief von Katja Neumann |
Lieber Herr Frings, ich kann mich noch gut an eine Reportage im Fernsehen erinnern, in der sich Herr Broder über die Spießer amüsierte, die seit dem Mauerfall zunehmend in der Stadt auftauchen und nichts besseres zu tun haben, als ihren Müll zu trennen und andere Mitmieter anzupöbeln, wenn sie ihren Unrat nicht ordnungsgemäß entsorgen. Er hätte damit auch die heutigen Neuberliner meinen können, die ihre teuren Fahrradhelme herunterklappen und in die Pedale ihrer Luxusräder steigen, auch wenn vor ihnen gerade eine Neunzigjährige mit Krücken die Straße überquert – nur weil sie die Straßenverkehrsordnung auf ihrer Seite haben. Er hätte auch jene arroganten Jung-berliner meinen können, die sich mit ihren Luxuskinderwagen überall vordrängeln, als handele es sich um einen Mercedes Cabrio. Man muss kein gealterter Altachtundsechziger sein, der einst Mercedessterne wie Trophäen aus einem Bürgerkrieg sammelte und noch heute dem Außenklo nachtrauert, um sich über Arroganz und Intoleranz zu ärgern. Sogar die unpolitischsten Maurer in Düsseldorf und Bonn ärgerten sich in den Siebzigern über den »Mercedes mit eingebauter Vorfahrt« – damals eine weit verbreitete Redewendung. Es ist also weder nostalgisch noch politisch, wenn ich mich über den Besitzer dieses schwarzen Porsches ärgere, der jeden Morgen am Mehringdamm vor der Einfahrt zum Schwulen Museum zwischen den Blumenbeeten auf dem Gehsteig parkt, als gehöre ihm die Welt. Ich würde selbst gern Sportwagen fahren, aber ich würde sie niemals mit einer derartigen Arroganz in einem Viertel abstellen, in dem die meisten nicht mal einen Fiat Panda haben. Selbst unser Bürgermeister, der sich freut, wenn anstelle des Biergartens in der Bergmannstraße nun ein Ärztehaus und zwei Supermärkte stehen, bedauerte kürzlich in einem Interview den Verlust der Toleranz und der Kreuzberger Mischung, also das friedliche Nebeneinander von Arm und Reich, von Porsche und 2CV. Es ist mir egal, wer hier parkt oder wohnt oder einkauft, es muss kein alter Kreuzberger sein, er kann 70 oder 17 sein, aus Bielefeld oder Kirkisien kommen. Solange er kein Idiot ist! Aber, mein lieber Kajo, eine private Frage hätte ich da noch: Warum bist Du eigentlich plötzlich so förmlich? Waren wir nicht in den Sechzigern per Du? War ich da nicht immer die »süße Katja« für Dich? Aber egal, ich nehme das Angebot zum »Sie« dankend an, und ich werde es mir drei Mal überlegen, was ich tun werde, wenn Du mir noch einmal das »Du« anbieten solltest. Vielleicht, weil Du gerade aus Deiner Praxis rausfliegst. Weil nämlich irgendein Wohlstands-Muttersöhnchen Nachwuchs bekommen hat und nun unbedingt nach Kreuzberg ziehen muss, um seinen Bugaboo Cameleon über die Bergmannstraße mit ihrem bunten Flair schieben zu können. Ihre Frau Neumann• |