November 2011 - Ausgabe 132
Straßen
Der Mehringdamm Nr. 50 von Kajo Frings |
Er war nur ein Maurermeister, aber er schuf beinahe ein ganzes Viertel. Sein einstiges Wohnhaus steht heute noch. Gerade mal ein Jahrzehnt war es her, da hatte die Stadt noch 400.000 Einwohner, jetzt sind es fast 550.000. Es ist das Jahr 1860. Berlin platzt aus den Nähten, vor dem Halleschen Tor wächst die Tempelhofer Vorstadt heran. Etliche Unternehmungen haben sich bereits zwischen dem schon städtisch anmutenden Tempelhof und der Stadtmauer angesiedelt, zwischen den bäuerlichen Landgütern werden Pianos, Schrauben, Zement, und Kupferdraht fabriziert. Es sind hauptsächlich Handwerker, die am Ausbau Berlins verdienen und von den Bauern günstige Ackergrundstücke kaufen. Einer von ihnen ist der dreißigjährige Maurermeister Wilhelm Riehmer, der sich einige Grundstücke sichert, die er wenig später viel teurer verkaufen wird. Um sich weitere Grundstücke zu kaufen und Häuser zu bauen. Zuerst mauert der Maurermeister in der Hagelberger Straße Nummer 2, dann in der Tempelhofer Straße Nummer 17, die später Belle-Alliance-Straße und heute Mehringdamm heißt. Hier entsteht das Haus, das er zum Domizil für sich und seine 12-köpfige Familie auserwählt hat. Im ersten Stock richtet er eine hochherrschaftliche Wohnung ein, deren kunstvoller Stuck auch 150 Jahre später noch von den Patienten der Kardiologen im ersten Stock am Mehringdamm Nr. 50 bewundert werden kann. Im Hinterhaus entstehen, wie damals üblich, Pferdeställe und Wagenremisen, doch im Hof steht eine Pumpe, mit der die Kutscher mit Hilfe der Pferde Wasser in ein Behältnis auf dem Dach befördern. »Ja«, so erzählen die Leute, »das ist das erste Haus in Berlin, in dem es fließendes Wasser gibt!« Bereits 1880 wird der fleißige Maurer im Berliner Adressbuch als Rentier geführt. Er baut nicht mehr, er lässt bauen. Darunter das spätere Apollo-Theater in der Friedrichstraße und den nach ihm benannten »Hofgarten«. Im Sommer bleibt die erste Etage in der Belle-AllianceStraße Nr. 17 leer, denn dann packt Familie Riehmer ihren Hausrat in die Kutschen und fährt an die Ostsee in ihr Sommerhaus auf der höchsten Düne von Heringsdorf. Zurück bleiben die Mieter: Ein Landschaftsmaler, der das Atelier gemietet hat, der Uhrmacher Henschel, die Löwenthals Drogenhandlung und andere Gewerbetreibende. Berlin ist inzwischen zur verkehrsreichsten Stadt des Reiches geworden. Auch in der Belle-Alliance-Straße verkehrt eines Tages eine so genannte Straßenbahn, und vielleicht war es der Blick auf Riehmers Wohnhaus, der den amerikanischen Journalisten Mark Twain 1891 zu dem Satz veranlasste: »Im Vergleich mit Berlin ist Chicago geradezu ehrwürdig. Die Hauptmasse der Stadt macht den Eindruck, als wäre sie vorige Woche erbaut worden.« Als Wilhelm Riehmer 1901 auf den Friedhof IV an der Bergmannstraße umzieht, treten sieben seiner Kinder das Erbe an. 1906 werden Stall und Remise abgerissen, wer braucht noch Pferde in dieser autoverrückten Stadt, die wächst und wächst. In der Luisenstadt, in Neukölln und Friedrichshain wird es allmählich eng, der anwachsende Strom der Zuwanderer versickert in stickigen Mietskasernen. In der Belle-Alliance-Straße dagegen lebt es sich noch immer gut. Nur ein paar Schritte sind es zum Belle-Alliance-Platz, von dem die Lastermeile der Friedrichstraße abgeht. Prinz Max von Baden soll in Riehmers Mauerwerk gewohnt haben, doch in den Adressbüchern findet sich kein Nachweis darüber. Aktenkundige Mieter sind ein Arzt, ein Rechtsanwalt und Notar, ein Tapezierer, ein Maler, ein Tischler und der Schriftsteller Carl Modde. Zum Ende des Weltkrieges stirbt auch die Witwe Riehmer, doch ihren Erben scheint es nicht gut zu gehen: 1919 muss eine Hypothek über 194.000 RM aufgenommen werden, 1922 eine weitere über 110.000 RM. Durch den Verkauf des Hofgartens im Jahre 1924 kann die Erbengemeinschaft aufgelöst werden, Tochter Betty wird die alleinige Eigentümerin des Hauses. Doch es geht bergab, 1920 beschwert sich die Mieterin Martha Hentschel beim Gesundheitsamt über »Mängel am Schornstein« und eine baupolizeiliche Untersuchung stellt fest, dass die Eigentümerin Rohrbrüche verschuldet hat, »weil das Hausverwaltungspersonal nie aufzufinden gewesen sei.« Den Krieg übersteht das Haus beinahe unbeschadet: Nur »die Grundbuchakte ist verbrannt.« 1947 wird aus der Belle-Alliance-Straße Nr.17 der Mehringdamm Nr. 50, auch das Viertel heißt jetzt Kreuzberg. Als die Mauer gebaut wird, verkaufen die Erben das Haus für 170.000 DM an einen Kaufmann aus Frohnau. Martha Aghten betreibt nun die »Pension am Mehringdamm… ohne Ausschank«, die allmählich zu einer »Massenabsteige« verkommt. Der Mehringdamm Nr. 50 droht zu Grunde zu gehen, doch während für Abriss und Neubau genug Subventionen vorhanden sind, kann der Landeskonservator für die Renovierung der Fassade keine Mark locker machen. Doch dann wird die Mauer wieder abgerissen, Geld fließt nach Berlin, das Haus wird renoviert, mit Geduld und Geschick. Den Blick vom ersten Stock des Treppenhauses in den Innenhof gibt es inzwischen sogar als Postkarte zu kaufen. Und im Vorderhaus sitzen wieder Ärzte, Anwälte, ein Notar, eine Apothekerin, ein Klavierbauer, ein Friseur – irgendwie ist wieder alles beim Alten. • |