November 2011 - Ausgabe 132
Mein liebster Feind
Brief Nummer 5 von Kajo Frings |
Liebe Frau Neumann, lassen Sie uns doch weiter das »Sie« pflegen. Es erleichtert die kritische Distanz. Auch wenn es noch Berührungspunkte gibt zwischen uns, denn zumindest an einer Stelle in Ihrem letzten Brief muss ich Ihnen doch beipflichten: Diese Fahrradrocker auf Kreuzbergs Straßen und Trottoirs werden zunehmend gefährlicher. Meine Nachbarn in der Fidicinstraße allerdings gehören noch zur gemütlicheren Generation der Radfahrer. Hier befördern nahezu alle ihr Fahrrad aus dem Haus, schieben es über den Geh(!)weg auf die Straße und fahren über das Kopfsteinpflaster. Und abends schalten sie die Beleuchtung ein. So etwas ist selten geworden. Der durchschnittliche Radfahrer fährt auf dem Gehweg und ohne Licht durch die Bergmannstraße, den 12jährigen Nachwuchs ebenfalls lichtlos hinter sich herradelnd und jeden menschenfreundlichen Autofahrer zur Verzweiflung treibend. Heerscharen von Eltern rasen morgens früh über die Gehwege, um ihre Kinder rechtzeitig in der Kita abzugeben, ältere Herren, die ich wegen ihrer verspeckten Ledertasche auf dem Gepäckträger für Lehrer halte, rasen bei Rot über den Mehringdamm, als ob es irgendeinen Schüler interessierte, ob der Unterricht pünktlich beginnt. Selbst die Apothekerin vom Mehringdamm lässt auch nicht den Schatten eines schlechten Gewissens in ihrem engelsgleichen Gesicht aufscheinen, wenn sie morgens früh die letzten dreihundert Meter vor ihrer Arbeitsstelle auf der linken Seite fährt, anstatt rechts den Mehringdamm bis zur Gneisenaustraße zu fahren, zu Fuß den Fuß(!)gänger(!) überweg zu nutzen, um dann in rechter Fahrtrichtung den Mehringdamm südwärts zu fahren und vor der Apotheke zu halten. Dabei ist sie noch eine von den Netten: Sie weicht aus, wenn ihr jemand entgegenkommt, im Gegensatz zu diesen arroganten Ehepaaren, die abends vor den Cafés am Mehringdamm durch die Fußgänger brettern, um sich dann doch nur an irgendeinen Tisch zu setzen. Mir ist ja bewusst, dass Fahrradfahren gesünder ist als Autofahren, und dass die Straßen noch lange nicht fahrradgerecht genug sind. Aber Rücksicht ist dem städtischen Fahrradfahrer so fremd wie der FDP der Gedanke, sich aufzulösen. Und es wird immer schlimmer: Mein Hang zu Perversitäten führte mich kürzlich auf eine Party nach Marzahn. Die Mehrheit der Gäste wählte die DKP und fuhr Fahrrad. Eine der Marzahnerinnen besaß sogar gleich drei Fahrräder: eins für die Arbeit, eins für das Training am Wochenende und eines für ihre gelegentlichen Trips nach Kreuzberg, was ihr auch »nich« wehtut, wenn‘s »jeklaut« wird. Am liebsten von all diesen Fahrradfahrern ist mir Stefan. Auch er hat ein Fahrrad im Hof stehen. Weil er den Fahrradständer mitbezahlt hat. Aber er fährt nicht damit, er lässt es einfach dort verrosten. Ihr Kajo Frings |