Mai 2011 - Ausgabe 127
Strassen, Häuser, Höfe
Die Wassertorstraße Nr. 27 von Werner von Westhafen |
Der Aufschwung Berlins zur Metropole brachte nicht nur positive Veränderungen. Er hatte Schattenseiten. Es gibt Viertel in Berlin, an denen die Jahrzehnte eher gemächlich vorüber zogen. Es gibt aber auch solche, in denen der Lebensraum immer umkämpft war. Die ehemalige Luisenstadt gehört zu letzteren. Die im Süden der Stadt stationierten Soldaten im Kampf gegen Napoleon sorgten ebenso für Unruhe wie die Hausbesetzer im Kampf um die von der Abrissbirne bedrohten Altbauten, oder wie die Kaufwut skrupelloser Immobilienhändler aus Amerika, Skandinavien oder Israel, die gegenwärtig in Kreuzberg ganze Häuser evakuieren lassen. Die Profitgier jener, die mit dem Lebensraum von Menschen handeln, bedroht Kreuzberg nicht zum ersten Mal. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, als Menschen aus aller Welt hierher kamen, um in den Fabriken zu arbeiten und etwas vom Glanz der Großstadt abzubekommen, waren die Quadratmeter in Berlin Gold wert. In den Sechzigerjahren erreichte der Bauboom seinen Höhepunkt, allein im Jahr 1865 wurden 1.268 Baugenehmigungen erteilt, doppelt so viele wie in den Jahren zuvor. Bei der Errichtung der Mietskasernen im Wedding, im Weberviertel der Strahlauer Vorstadt oder in der Luisenstadt drängte man zur Eile. Die Neubauten des 19. Jahrhunderts mussten ebenso schnell realisiert werden wie heute. Zeit war Geld, denn die Quadratmeterpreise stiegen, und je früher ein Bauvorhaben abgeschlossen war und das Geld wieder in die Kassen zurückfloss, um so eher konnten die Immobilienhändler das nächste Grundstück kaufen. Demzufolge schossen die Wohnhäuser am Rande Berlins wie Pilze aus dem Boden. Doch unter dem zeitlichen Druck und der Profitsucht der Investoren litt die Qualität. Ende der Sechzigerjahre weigerten sich sogar die Banken, die Neubauten mit Hypotheken zu belasten, erstmals sprach man vom «Mietschwindel”. Denn immer häufiger führte die Gier zu Katastrophen. Allein im Jahre 1865 stürzten vier neue Häuser ein. Während bei den gegenwärtigen Modernisierungen von Häusern zum Zweck der Profitsteigerung vor allem kosmetisch an Fassaden und Treppenhäusern gearbeitet wird und allenfalls der Putz wieder abfällt, schlampte man im 19. Jahrhundert sogar mit der Statik. Immer wieder zeigten sich Risse in den neuen Häuserwänden der Luisenstadt, und Mieter, die gerade in der Obentrautstraße, der Lobeckstraße, der Rüdersdorfer Straße oder der Dresdener Straße eingezogen waren, mussten ihre Wohnungen wegen akuter Einsturzgefährdung schon wenige Monate später wieder räumen. 20. Oktober wurde der Lärm der Sägen von einem lauten Krachen übertönt. Zwei ohrenbetäubende Schläge, so erzählten Augenzeugen, hätten kurz nach zehn Uhr morgens das Mauerwerk erschüttert. Sekunden später brachen Seitenflügel und Hinterhaus vom Dach bis zu den Grundmauern zusammen wie ein Haufen Streichhölzer. Der Sohn des Tischlermeisters Mushake flog in hohem Bogen auf einen Haufen Hobelspäne und überlebte, der Rest der siebenköpfigen Familie wurde verschüttet, ebenso wie das sechsjährige Mädchen des Messinggießers Jacob, das im Hof spielte, während der Vater sich aus der Schankstube gerade sein Frühstücksbier holte. 28 Menschen fanden in den Trümmern den Tod, unter ihnen viele Frauen und Kinder. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht vom Einsturz des Hauses in der Stadt, und bald war klar, wie es zu dem Unglück gekommen war. Schon bei der Bauabnahme hatte die Kommission die hängenden Kellerdecken bemängelt und Stützbalken verlangt. Zudem war eine tragende Wand der Einfachheit halber zuerst gemauert und dann mehrfach durchstemmt worden, um die Deckenbalken einzuschieben, was der Kommission bei der Abnahme angeblich nicht aufgefallen war. Tatsächlich unsichtbar waren die Hohlräume in dieser Wand, die der sparsame Baumeister mit Kalkbruchsteinen hatte ausfüllen lassen. Als dann noch bekannt wurde, dass der verantwortliche Baumeister, ein Freund des Eigentümers, den Bau nicht selbst geleitet, sondern seinen Bruder engagiert hatte, und dass der Bruder wiederum sämtliche Aufgaben an den Maurermeister Lebius übergab, der sie letztendlich dem Polier Flotow übertrug, dessen vornehmliche Aufgabe es war, die Maurer zur Eile anzutreiben, wurde die Kritik an der preußischen Bauaufsichtsbehörde immer lauter. Der Trauerzug für die Verstorbenen der Wassertorstraße Nummer 27, der am 25. Oktober 1865 von der Charité zum Friedhof der Jacobi-Gemeinde vor dem Halleschen Tor zog, glich einer Demonstration. Ein Protestzug von 12.000 Menschen erwies den Toten die Ehre und brachte die skrupellosen Immobilienhändler über die Grenzen Berlins hinaus in Misskredit. An der Spitze zeigten sich reumütige Politiker, die es versäumt hatten, rechtzeitig Kontrollmechanismen zu installieren. Erst der Tod 28 unschuldiger Mieterinnen und Mieter führte dazu, dem korrupten Bauamt einen «dirigierenden” Inspektor voranzustellen, der für jede Genehmigung verantwortlich zeichnete. Ein übergeordnetes Amt zum Schutz der Mieter aber, das in der Lage wäre, die Vertreibung ganzer Bevölkerungsschichten durch Immobilienspekulanten zu verhindern, wurde bis heute noch nicht installiert. • |