Mai 2011 - Ausgabe 127
Geschichten & Geschichte
Oberstadt und Unterstadt von Erwin Tichatschek |
An der Spree scheiden sich die Geister. Sie teilt die Städter in Berliner und in Cöllner. Während Städte wie Paris oder London stets in einem Atemzug mit den großen Flüssen erwähnt werden, denen sie ihre Existenz verdanken, spielt die Spree in den Touristenführern kaum eine Rolle. Über den Fluss, an dessen Ufern die Flößer einst ihre Lager errichteten und damit den Grundstein Berlins in das sandige Bett der Endmoräne legten, findet man selten ein lobendes Wort. Im Gegenteil: Man verspottet ihn. Zwar spricht der patriotische Berliner gern von seinem »Spree-Athen«, und ein Theaterkritiker namens Ludwig Rellstab phantasierte im 19. Jahrhundert gar von der »schönen blauen Spree«, doch schon ein Zeitgenosse konterte, das Flüsschen käme als Schwan in die Stadt und als Schwein wieder heraus. Auch den Reisenden des 18. Jahrhunderts war die Spree unappetitlich. Zwar lobte der Schweizer Johann Bernoulli in seiner »Sammlung kurzer Reiseberichte« die Weichheit des Wassers, doch würde ein Poet wegen des Geruches kaum »von dieser Eigenschaft Gebrauch machen.« Ein echter Schweizer, »der an die perlenden, sprudelnden himmelreinen Wasser der Alpen gewöhnt ist«, wird die Spree nicht »ohne Widerwillen ansehen«. Denn »nicht nur Flüssigkeiten, sondern auch alle dicken Exkremente werden nach der Spree getragen«, abends nach 10 begegne man in Ufernähe »alle 12 Schritte einem alten Weibe, das mit ein oder zwei Riechbüchsen und einem kleinen Lichte nach dem Fluss« wandele. Obwohl nicht viel Lobenswertes von ihr berichtet wurde, so war sie doch einst Berlins wichtigste Lebensader und teilte die Stadt schon früh in Oberstadt und Unterstadt, in Berlin und in Cölln. Während die Siedlung am nördlichen Ufer den besseren Herrschaften vorbehalten war, haftete der Ortschaft Cölln seit jeher der Odem der Armut an. Paläste, Theater, Cafés, Prachtstraßen und Parkanlagen befanden sich meist am nördlichen Ufer, während das heutige Neukölln und Kreuzberg für den Spiegel und die Boulevard-Presse noch immer als Berliner Vorzeige-Armenviertel herhalten müssen. Tatsächlich hatten sich an den Südufern der Spree zunächst Gerbereien, Färbereien, Tuchmacher und andere kleine Handwerksbetriebe niedergelassen. An der Köpenicker Straße, die nicht weit vom südlichen Ufer entlangführte, wohnten Arbeiter. Der Süden war nichts für feine Leute, die Bewohner des Viertels galten als versoffen und »von Natur aus zur Faulheit geneigt«. Eine Meinung, welche die Bildzeitung noch in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts, als die Gegend längst schon „Kreuzberg“ hieß, vertrat. Doch in grauer Vorzeit warf ein gewichtiger Adliger einen Lichtstrahl auf die Südstadt: Der 5. Doch Kurfürst Joachim, der zunächst »stattliche und später füllige« Staatsmann, der bereits im zarten Alter von 15 Jahren zum Landesvater ernannt worden war, als begeisterter Wissenschaftler galt und sich mit dem Beinamen des weisen »Nestor« schmücken ließ, schien sich wohl zu fühlen in diesem Umfeld. Bis zum verhängnisvollen Jahre 1525 ließ es sich der dicke Kurfürst in seiner Burg gut gehen. Dann allerdings wurde ihm die Bekanntschaft mit dem Arzt und Sterndeuter Carionus zum Verhängnis. Als die Sterne des Astrologen die Spree über die Ufer treten und eine Sintflut über die Stadt kommen sahen, flüchtete der leichtgläubige Fürst mit seinem gesamten Hofstaat und all seinem kostbaren, in wasserdichten Kisten auf Booten verstauten Hab und Gut auf den höchsten Gipfel der Region: den Kreuzberg. Als der Weltuntergang ausblieb, zog der Fürst »wieder gegen Cölln«. Er war noch nicht am Burgtor angelangt, da brach tatsächlich ein Unwetter über die Karawane herein und hat dem »Churfürsten 4 Pferd vorm Wagen samt dem Knechte genommen.« Aber ein Regenguss war kein Weltuntergang, und der Spott des Volkes groß. Dem Kurfürst blieb nichts übrig, als seinen geliebten Sterndeuter zum Teufel zu jagen, doch das Ansehen des dicken Nestor hatte nachhaltig gelitten. Auch in der Folge fiel der Regent vom Südufer eher durch Dümmlichkeit als durch schlaue Überlegungen auf. Der traurige Höhepunkt seiner Karriere war die öffentliche Hinrichtung 38 unschuldiger Juden auf einem riesigen Scheiterhaufen in der Frankfurter Straße. Die Verbrennung war ein grenzübergreifendes Volksfest, das für die Bewohner in der Oberstadt veranstaltet wurde, jedoch auch die stets neugierigen Bewohner aus der Unterstadt in Massen angelockt hatte, die, wie schon der gelehrte Freund des Kurfürsten zutreffend geschrieben hatte, die „Ausschweifung im Trinken nicht unbedingt für ein Laster« hielten.• |