Kreuzberger Chronik
Mai 2011 - Ausgabe 127

Reportagen, Gespräche, Interviews

Hinter dem Zaun


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von Michael Unfried

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Auf dem alten Gleisdreieck entsteht ein Park. Es hätte ein Stück wilder Natur in der Stadt sein können. Doch die Planer hatten andere Ideen. Eine Erstbesichtigung.


Hinter dem Zaun, der mit einem Schild das Betreten der Baustelle verbietet, erstreckt sich eine große, grüne Ebene, die im Süden und im Westen von Bäumen begrenzt ist. Nur im Osten zeigt sich eine Häuserzeile und verrät, dass man sich mitten in einer Stadt befindet.

Durch das Gitter des Zaunes beobachtet Norbert Rheinlaender zwei Bagger, die einen der neu angelegten Wege entlangfahren und Erde von hier nach da schaufeln. Norbert Rheinlaender kennt dieses Land so gut wie kein anderer. Schon vor 30 Jahren führte er an Wochenenden naturinteressierte Wandergruppen auf Schleichwegen über das alte Bahnhofsgelände mit seinen von der Zeit überwucherten Gleissträngen, Signalschildern, Backsteinruinen, entführte sie in eine Landschaft mit Birken, Rubinien, Pappeln, Königskerzen, dem seltenen Zilp-Zalp, Füchsen und Kaninchen. Im Grunde ist diese Baustelle seine Baustelle. Doch jetzt darf auch er sie nicht mehr betreten, ohne zuvor eine Genehmigung von der Bauleitung einzuholen.

Dabei würden ohne ihn hier wahrscheinlich gar keine Bagger mehr rollen. Ohne ihn und die hartnäckige Bürgerinitiative »Aktionsgemeinschaft Westtangente«, die in den Siebzigerjahren mit einem Protest gegen den Bau einer Autobahn auf der alten Bahntrasse des Anhalter Bahnhofs begann, und deren Nachfolgeorganisationen nach dem Fall der Mauer das innerstädtische Biotop vor den Spekulanten der Immobilienwirtschaft zu bewahren versuchten, würden hier womöglich längst eine Autobahn oder Townhouses und Eigenheimsiedlungen stehen. Doch nun entsteht, abgesehen von der Möckernkiezsiedlung mit etwa 400 Wohnungen, ein Park. Eine 28 Hektar große
Foto: Dieter Peters
Grünfläche. Eine der größten der Stadt.

Sie ist das Ergebnis jahrzehntelanger Hartnäckigkeit und eines unermüdlichen Kampfes gegen eine Politik, die den Willen der Bürger nicht ernst nimmt. Sie ist das Ergebnis eines ungleichen Kampfes, der frühestens im August, wenn der Park eröffnet werden soll, ausgefochten sein wird, und aus dem als zumindest heimlicher Sieger David hervorgehen wird. David, der gegen solche Riesen wie die Deutsche Bahn, die Automobillobby, den Berliner Senat oder die ausländischen Investoren des Potsdamer Platzes antrat.

Rheinlaender saß als Außenseiter, als nur zähneknirschend geduldeter Vertreter der Anwohner im Planungsausschuss. Bis heute kämpft er gegen die unsinnigen Visionen ehrgeiziger und profilierungssüchtiger Landschaftsarchitekten, immer wieder sieht er sich während der vielen Diskussionen als Einzelkämpfer, nur selten stehen ihm die Abgesandten von Bezirk oder Senat zur Seite, denen es vor allem darum ging, die Planungen im finanziellen Rahmen von 28 Millionen Euro zu halten. Rheinlaender hat in diesen vielen Auseinandersetzungen viel erreicht, aber er triumphiert nicht. Im Gegenteil: »Wir konnten uns nur wenig durchsetzen«, sagt er und schaut durch eines der Drahtquadrate im Zaun auf die neu angelegten Wege. Es ärgert ihn, mit welcher Akribie, mit welcher Strenge und Geradlinigkeit die Architekten von Loidl ihre Wege durch die Wildnis geschlagen haben. Die Westtangente hätte ähnlich ausgesehen. »Diese Leute wollen sich die Natur zum Untertan machen.« Rheinlaender und seine Mitstreiter dagegen hatten sich geschwungene Wege vorgestellt, die um die Bäume herum und zwischen den alten Geleisen hindurchführten. Sie dachten an einen Ausbau der kleinen Schleichwege, die in den vergangenen fünfzig Jahren im Dickicht der Natur entstanden waren. Rheinlaender hätte auch die langen Streifen des Kopfsteinpflasters neben den Gleiszügen erhalten, die alten Laderampen des Güterbahnhofs, zwischen denen es längst so grün spross wie in einem Steingarten. Nur am Eingang und ganz im Süden, am Spielplatz mit den Hinkelsteinen, sind zwei der alten Pflasterflächen erhalten geblieben.

»Jedenfalls gab es immer nur Streit mit den Loidls. Die Bäume hätten sie am liebsten platt gemacht und alles neu bepflanzt – nach Katalog.« Norbert Rheinlaender ist es zu verdanken, dass nun kleine, oft ummauerte Bauminseln in der großen Wiese stehen geblieben sind. Sogar da, wo das Atelier Loidl noch optimistisch mit dem Lineal seine Striche durch die Landschaft zog und schon die Wege entstanden sind, ragen an einigen Stellen die Zeugen von Rheinlaenders Unbeugsamkeit aus dem teuren Plattenbelag: Eine Birke und zwei Rubinien. »Wir haben hier buchstäblich um jeden Baum kämpfen müssen.«

Die neuen Wege sind Rheinlaender ein Dorn im Auge. »Wir wollten einen Park der zwei Geschwindigkeiten. Einen erdigen Weg für
Zeugin der Unbeugsamkeit: Eine Birge Foto: Dieter Peters
die Spaziergänger und eine asphaltierte Bahn für Radfahrer und Inliner.« Loidl aber legte die beiden Spuren direkt nebeneinander, eine dunkle Asphaltspur für die Radler, und eine helle aus Zement für die Fußgänger. »Ich halte jede Wette, dass die Inliner alle diese Zementspur nutzen werden, weil die nämlich viel schneller ist.«

Doch Architekten leben in ihrer eigenen Welt. Für sie sind von der Natur gestaltete Flächen ungestaltete Flächen. Freiflächen, Leerflächen, Spielplätze, auf denen sie bauen können, und auf denen sie sich ihre Denkmäler setzen. Deshalb ist das, was sie planen, in der Regel eher fürs Auge oder das Schulbuch gedacht und nicht für die Praxis. Es muss, wie so vieles in dieser Zeit, vor allem gut aussehen, und »es ist natürlich auch viel beeindruckender, wenn man so ein großes, grünes Stück gestaltetes Land präsentiert. Das kommt in der Tagesschau auf jeden Fall besser rüber als so ein Wäldchen voller kleiner, verschlungener Trampelpfade.«

Immerhin ist im Westen des Ostparks ein größeres Wäldchen erhalten geblieben, in dem unzählige, parallel zwischen den Bäumen verlaufende Gleisstränge an die glorreiche Vergangenheit des Anhalter Bahnhofs erinnern. Nur an einer Stelle wird es von der Gerade eines Weges durchstochen, der ebenfalls historischen Ursprunges ist: Er ist die Verlängerung der Gneisenaustraße und der Hornstraße, einer jener großen Alleen, die wie die Strahlen der Sonne am Großen Stern zusammenlaufen sollten. Doch dann kam der geplanten Prachtstraße des Architekten Lenné der Bau des Bahnhofs in die Quere. Heute stehen der einstigen Planung nur noch die beiden Schienenstränge der Fernbahn im Weg, doch für die geplante Fußgängerbrücke, die sich über die ICE-Trasse schwingen und den Ostteil des Parks mit dem Westen verbinden sollte, fehlt das Geld. Nun ist der einzige Zugang zum zweiten Park des Gleisdreiecks am nördlichen Ende, dort, wo der ICE in den Tunnel abtaucht.

Wäre es nach dem Willen der Anwohner gegangen, vermutet Rheinlaender, dann wäre ein Großteil dieses Areals so geblieben wie dieses kleine Wäldchen. »85 Prozent der Leute hätten ein Stück wilder Natur vor ihrer Haustür begrüßt«, fünf Untersuchungen wurden durchgeführt, verschiedenste Anwohnergruppen dazu befragt, per Postwurfsendungen, in Diskussionsveranstaltungen, im Internet: Was wünschen sich die Anwohner? »Aber dann machen sie eben doch, was sie wollen«, und am Ende haben wir einen Rasen, »der aussieht wie jeder andere großstädtische Rasen auch, mit Wegen, Bänken, Baumgruppen und einem Sportbereich in der Ecke für die Jugendlichen.«
Foto: Dieter Peters
Foto: Dieter Peters
Das gleiche, befürchtet Rheinlaender, wird auch auf dem Tempelhofer Flughafen passieren. Man holt die Meinung der Bevölkerung ein und macht am Ende, was man will.

Der einzige Unterschied könnte sein, dass sich auf dem Flughafengelände keine Bürgerinitiative wird einmischen können. Auch Rheinlaender hätte nie mit Loidl an einem Tisch sitzen dürfen, hätte er nicht seit Jahren mit der Politik um dieses Gelände gekämpft. Während die gewählten Politiker kamen und gingen, hat Rheinlaender seinen Platz nie verlassen. Er war immer hier, auf dem Gleisdreieck. 30 Jahre lang. Eigentlich, so witzeln seine Bewunderer, müsse der Park »Rheinland« heißen.

Doch Rheinlaender hat zum Resümieren und zum Witzeln keine Zeit. Er steht auf den Yorckbrücken, wo zwischen den rostigen Bahntrassen der Südeingang zum Park liegen wird. Der einstige Architekt observiert die Bauarbeiten. Im August vielleicht wird er sich eine Verschnaufpause gönnen, da könnte er sich endlich auf eine der Bänke in der Nähe der »Interkulturellen Gärten« setzen, in denen Kriegsflüchtlinge aus dem Balkan ihre Tomaten, ihre Paprika, ihre Kräuter pflanzen. Oder er wird mit Thomas Handschuh plaudern, dem Imker mit seinem Bienengarten, der zwei Bienenstöcke in den Park gebracht hat, die für die Vermehrung all der wilden Blumen und Kräuter sorgen sollen, die überall dort, wo Loidl noch nicht war, aus der Erde gucken. Vielleicht wird er auf einem der großen Findlinge sitzen, die im »Naturerfahrungsraum« liegen, diesem großen Spielplatz mit Erdhügeln und Lehmgrube, die auch noch Erwachsene zum Spielen animieren könnte. Hier, in der Nähe des Südeingangs, sind einige Ideen umgesetzt worden, die tatsächlich noch von den Bürgern, und nicht von den Architekten stammen. Hier fühlt sich der Architekt am wohlsten. Und wenn im Sommer dann Kinder hier spielen, Bienen summen, die Frauen aus dem Balkan ihre Zwiebeln zu Zöpfen flechten, wenn diese kleinen Stadtoasen sich mit echtem Leben füllen, dann wird er »vielleicht sogar ein bisschen stolz sein« auf das, was er da zuwege gebracht hat.

Lange ausruhen auf seinen Lorbeeren wird er sich nicht. Rheinlaender muss weiter. Zur nächsten Baustelle. Im Sommer gehen die Arbeiten im Westpark in die entscheidende Phase. Wenn er nicht aufpasst, könnte dort ein Park entstehen, der aussieht wie in Köln oder Düsseldorf. •


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