Kreuzberger Chronik
Juni 2011 - Ausgabe 128

Kreuzberger
Süleyman Çelik

Jeder Mensch hat seinen Takt


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Silke Mayer

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Sie kamen aus Adana: Dursun, der Vater, Sultan, die Mutter, und Nurettin, das Baby. Nurettin war gerade ein halbes Jahr alt geworden, als sie ihn wieder zurückschickten, zu den Großeltern. Es war nicht möglich, ein Kind großzuziehen und gleichzeitig in drei Schichten bei Optibelt zu arbeiten, einer Firma, die Keilriemen herstellte für Autos, Schiffe, Industriemaschinen, »riesige Riemen«, und »ein furchtbarer Gestank.« Dreißig Jahre hielten Mutter und Vater der Firma die Treue, auch Süleymans Schwester blieb zwanzig Jahre bei der Firma. »Wenn die nicht in Konkurs gegangen wäre, dann würde sie heute noch nach Keilriemen stinken.«

Nurretin also wuchs in der Türkei auf, während die anderen Kinder - darunter auch Süleyman - in Kreuzberg blieben. Viel Zeit hatten die Eltern nicht für sie, und als Süleyman groß war und noch immer zuhause herumhing, sagte der Vater: »Es wird Zeit, dass du mal was Anständiges arbeitest«. Also machte er sich auf den Weg zu einer Schokoladenfabrik. Die Chefin erzählte ihm, dass der Geruch von Schokolade Übelkeit verursachen könne, aber Süleyman lachte, Süleyman liebte Schokolade. Doch nach drei Stunden war ihm so schlecht, dass er seine Karriere als Fabrikarbeiter aufgab. »Ich hatte das Glück, nie das Glück zu haben, in einer Fabrik arbeiten zu können.«

Süleyman machte eine andere Karriere. In der Schule war er eines von zwei türkischen Kindern, und er war gut in Deutsch und der Beste in Chemie. Aber er fehlte ständig. Die Schule machte ihm keinen Spaß. Obwohl einige der Lehrer zu ahnen schienen, dass dieser Junge mehr konnte als Schokolade essen und Schuleschwänzen. Immer seltener tauchte er in der Schule auf, und sein Abschlusszeugnis hat er bis heuten nicht abgeholt. Er brauchte es auch nie.

Süleyman trieb sich mit den anderen am Kottbusser und am Schlesischen Tor herum, jener Gegend, die man »Klein Istanbul« nannte. Sie öffneten heimlich Autotüren und fuhren spazieren. »Aber wir haben nie was mitgenommen, wir wollten nur rumfahren.« Tagelang saßen sie in Cafés, hörten Musik und rauchten Grünen Marokkaner. Manchmal waren sie »beim Lockigen« in der Reichenberger Straße und machten ein bisschen Musik für die Gäste- »ich glaube, das Café hatte nicht mal einen Namen, alle sprachen nur vom Lockigen«, weil der Wirt so lange Locken hatte. Irgendwann begann der Lockige, ihnen ihre kleinen Auftritte mit Haschisch anstatt mit D-Mark zu bezahlen. »Manchmal wussten wir nicht mal mehr, ob draußen Tag war oder Nacht.« Aber dann landete der Lockige im Knast. Auch viele andere von Süleymans Freunden aus jenen Jahren sind irgendwann verschwunden, wurden abgeschoben, eingesperrt, tauchten unter.

Süleyman aber machte eine andere Karriere. Süleyman taugte nicht für die Unterwelt. Süleyman hat ein rundes, friedliches Gesicht. Seine Augen sind gutmütig, immer hat er ein Lächeln für seine Gesprächspartner, und er spricht mit ruhiger Stimme ausgewählte Worte.

Wie ein kleiner Buddha scheint er in sich zu ruhen, nur die zehn Finger werden manchmal unruhig, machen, was sie wollen, beginnen plötzlich, auf der Tischkante zu trommeln. »Es gab eine Zeit, da konnte ich keine fünf Minuten mit jemandem im Café sitzen, ohne dass meine Finger anfingen zu spielen. Meine Freunde waren total genervt: Mann, kannst du nicht mal aufhören damit.«

Aber Süleyman konnte nicht mehr aufhören damit. Weil eines Tages der große Bruder aus Adana zurück nach Berlin kam. Und Nurettin hatte etwas mitgebracht aus der Heimat. Er hatte eine »Baglama, so eine türkische Bouzouki«, dabei. Mit der begann er nun, auf Hochzeiten und in türkischen Lokalen zu spielen. Und Süleyman begann, sich immer mehr für die Darbukas zu interessieren, die kleinen türkischen Trommeln. Weil Rhythmus der Anfang von allem war, weil »jeder Mensch seinen Takt hat, jeder Motor, jedes Herz - weil es nichts gibt auf der Welt ohne Rhythmus!« Jedes Gitarrensolo wird langweilig »ohne Beat«.

Also kaufte sich Süleyman seine erste Trommel, und es dauerte nicht lange, da traten die beiden Brüder gemeinsam auf und waren gefragte Musiker in den türkischen Lokalen. Doch der Vater war sauer, wenn sie nachts loszogen, um in zwielichtigen Casinos zu den schlangenartigen Bewegungen nur noch schleierhaft bekleideter Bauchtänzerinnen zu spielen. Er verbot ihnen den Ausgang, aber die Brüder versteckten ihre Instrumente auf dem Balkon, verließen die Wohnung ohne Instrumente, »um noch einen Tee« zu trinken, kletterten dann auf den Balkon und wurden bis zum Morgengrauen nicht mehr gesehen.

Süleymans Darbukas faszinierten die Musiker gleichermaßen wie die Tänzerinnen und die Gäste. Sie applaudierten, sie wollten mehr. Aber Süleyman war noch immer nicht am Ziel. Diese wehleidigen Klänge der arabischen Musik waren ihm auf die Dauer zu schwermütig, zu dramatisch - »wenn du die hörst und dazu rauchst, dann wirst du voll melancholisch. Dann ist das ganze Leben nur noch Scheiße.« Süleyman machte eine andere Karriere.

Im Jugendzentrum in der Naunynritze traf er junge Musiker aus aller Welt. Und Martin, einen Sozialarbeiter, der sich zu ihnen in den Proberaum setzte und zuhörte. »Martin war ok, er beschaffte uns immer irgendeinen Raum, in dem wir üben konnten.« In der Naunynritze hörte Süleyman Çelik zum ersten Mal das Wort Weltmusik. Und er
Foto: Privat
begann, mit »zwei Fingern jeder Hand zu spielen«. So, wie die indischen und aserbaidschanischen Spieler.

Süleyman zog sich zurück, Süleyman ist Autodidakt. Er begann, alles noch einmal neu zu lernen. »Ich spielte von morgens um Acht bis abends um Acht«, wenn es regnete drinnen, »mit einem Pullover in der Trommel, damit die Nachbarn nicht rüberkamen«, und im Sommer dann draußen, »auf der Wiese«, im Park an der Alten Jakobstraße. Jeden Tag, zwölf Stunden, vier Jahre lang. Während der Vater, die Mutter, die Schwester in der Fabrik standen. Bis ein türkischer Zitherspieler davon hörte, dass da einer jeden Tag auf der Wiese sitzt und trommelt. Er nahm Süleyman mit auf eine Tournee mit Flamencomusikern.

Süleyman ging nicht in die Fabrik. Er wurde auch kein musikalischer Begleiter verführerischer Bauchtänzerinnen, er stand mit wunderbaren Musikern auf der Bühne, mit Kamalesh Maitra, der einst die Beatles mit seinen Tablas begleitet hatte. Der Percussionist von Sting kam zu einem Workshop in seine Wohnung in die Alte Jakobstraße. »Wenn die in der Stadt sind, kommen sie zu mir.« Und während viele seiner Mitschüler noch immer vor der Playstation sitzen und Autorennen fahren oder Ballerspiele spielen, sitzt Süleyman vor dem Computer, um mit Musikern aus aller Welt zu kommunizieren. »Das sind Tausende, zu denen ich Kontakt habe, und die mich bitten, eine Spur für sie aufzunehmen.« Immer wieder, auf unzähligen Alben internationaler Musiker, hört man jetzt die Rhythmen des Trommlers aus der Alten Jakobstraße.

Auf die Bühne geht Süleyman nur noch selten. Nur, wenn er Lust dazu hat. Mit guten Freunden zum Beispiel. Oder um etwas zu lernen. Bei Hans Hartmann, dem Kreuzberger Chapmanstickvirtuosen, hat er beides: einen Freund und einen Lehrer. »Hartmann ist Wahnsinn!« Und wenn Süleyman mit Hartmann auf der Bühne steht, und wenn Süleyman da unten auf seinem Schemel sitzt, die zierliche Trommel auf dem Oberschenkel, und das ganze Konzert über zu diesem weißhaarigen Gitarrenguru mit dieser zwölfsaitigen Kombination aus E-Bass und E-Gitarre aufschaut und dabei seine freundlichen Augen vor Bewunderung strahlen, dann wird Hartmanns Freundin manchmal ganz anders zumute. Doch ist nicht alles im Blick des Trommlers Bewunderung. »Bei Hartmann musst du aufpassen und genau hinschauen, um die Zeichen zu erkennen. Seine Mimik ist minimalistisch, da siehst Du kaum was.« Vielleicht, weil es eine vollkommene Konzentration erfordert, wenn Hartmann, der Ex-Guru-Guru-Bassist, »mit der einen Hand einen 7/8-Takt spielt, während die Bass-Hand einen 3/4-Takt anschlägt. Und da musst du erst mal überlegen, welcher dieser beiden Stimmen du nun folgst...«

Manchmal sitzt auch Dursun Çelik unten im Publikum. Zwanzig Jahre lang hatte sich der Vater um seinen Sohn gesorgt, der die Schule schwänzte, in zwielichtigen Spelunken verkehrte und nach drei Stunden aus der Schokoladenfabrik zurückkam, um nie wieder in einer Fabrik arbeiten zu gehen. Heute ist Dursun Çelik glücklich. Einer von ihnen hat es geschafft. •


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