Juni 2011 - Ausgabe 128
Briefwechsel
Singend vor Bankautomaten von Erwin Oswald |
Michael Oswald zur Ausgabe Nr. 127 Sehr geehrte Kreuzberger! Die Juni-Ausgabe war wieder mal spitze: Das Porträt über ein junges Mädchen, das um sein Zuhause fürchtet; die Reportage über den Kahlschlag auf dem Gelände des Gleisdreiecks durch karrieregeile Architekten und eine Baugruppe an der Yorkstraße; im historischen Beitrag eine Geschichte über Immobilienspekulationen im 19. Jahrhundert, und auch „Der Alte in der Espressolounge“ fühlt sich nicht mehr wohl unter lauter hippen Leuten mit Geld. Fast in jedem Beitrag ging es um das Problem, das uns alle hier so beschäftigt: Die Gentrifizierung. Ohne dass das Wort ein einziges Mal fiel. Das ist Klasse! Trotzdem würde ich mir wünschen, dass die Dinge deutlicher beim Namen genannt werden. Es wäre an der Zeit, darüber zu berichten, wie viele Häuser verkauft, wie viele der alten Geschäfte, einfachen Mietshäuser und Kneipen im Kiez schon verschwunden sind, seit die Immobilienhändler mit ihren Porsches, BMWs und Cabrios hier in der 2. Reihe parken. (...) Wie die Musik in diesem Viertel immer weniger wird. Musik, die in Kreuzberg nie jemanden gestört hat. 40 Jahre lang war das kein Problem, wenn nachts um drei in irgendeiner Kneipe oder auf irgendeiner Party Jimis Hey Joe so laut ertönte, als hätte man zehn Marshall-Boxen aufgestellt. Wenn auf der Straße bis zum Morgengrauen getanzt, gevögelt, gestritten und gesoffen wurde. Und jetzt ziehen diese altmodischen 50jährigen hier ein, die bereits an Altersbettflucht leiden, aber meinen, es sei die Musik, die sie nicht schlafen lässt. Leute, die ein Leben lang nichts anderes im Sinn hatten, als auf ein Häuschen zu sparen, und die nur auf Partys gegangen sind, um sich ein Weibchen zu suchen. Solche Leute kommen jetzt hier her, in einen Raum, den wir uns erobert hatten, einen Raum, den niemand mehr haben wollte - und machen uns den Laden dicht. Ich habe nichts gegen neue Leute, die hier her kommen, wenn sie hier her passen. Von mir aus können sie sogar Geld mitbringen. Aber Leute, die singend vor dem Bankautomaten stehen, das sind doch keine Kreuzberger mehr! Solche Leute passen nicht hierher. Die kommen nur, weil sie in irgendeinem Prospekt irgendeines Immobilienhändlers ein paar schöne Bildchen von der Bergmannstraße gesehen haben, einmal beim Kaffee vor der Markthalle in der Sonne saßen und sich sagten: „Ach, wie nett!“ Dass wir für diese Nettigkeit, diesen „Charme des Chamissokiezes“, gekämpft haben, davon haben sie keine Ahnung. Und Mitkämpfen würden sie nie. Deshalb müssen sie weg. • Michael Oswald |