Juli 2011 - Ausgabe 129
Kreuzberger
Simone Barrientos Jeder wusste, was ich mache
von Kajo Frings
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Simone Barrientos hat es nie sonderlich leicht gehabt. Geboren in Lutherstadt Eisleben. Aufgewachsen in Neustrelitz, in den biederen Sechzigerjahren noch der tiefe Osten. Noch dazu als Tochter einer Tänzerin und eines Vaters, den sie nur vom Hörensagen kannte. Simone Barrientos hätte so gerne unauffällig und in der Anonymität gelebt, aber in Neustrelitz konnte man nicht unauffällig leben, in Neustrelitz regierte die Enge der Beobachtung. »Jeder kannte mich, jeder wusste, was ich machte. Sie wussten sogar das, wovon ich selbst nichts wusste«, und sie erzählten Geschichten, die nie geschehen waren. Neustrelitz, das besteht zu jener Zeit zur einen Hälfte aus einer sowjetischen Garnison, die etwa 25.000 Soldaten beherbergt, und zur anderen Hälfte aus da gebliebenen Deutschen. Dazu kommen 15 Angolaner, die in einem Ausländerheim untergebracht sind und nur selten auf der Straße zu sehen sind. Schon zu Zeiten der realexistierenden DDR ist das Leben für Dunkelhäutige nicht einfach in den östlichen Provinzen Deutschlands. Simone Barrientos allerdings hat keine Berührungsängste gegenüber »den Fremden«. Sie besucht die Angolaner oft in ihrem Heim, und sie besuchen Simone in ihrer Wohnung. Was bald dazu führt, dass sie auf der Straße als »Negerhure« beschimpft wird. Aber Simone Barrientos erzählt nicht gern davon, es wird ja schon genug gelästert über die DDR. Trotz aller Widrigkeiten ging es immer weiter, das Leben der Simone Barrientos. Ein Leben ohne Pausen, ohne Punkt und Komma, ein Leben im Stenostil. Sie beendet die polytechnische Oberschule und geht in die Lehre. Mädchenberufe wie Krankenschwester oder Verkäuferin interessieren sie nicht. Auch eine Tätigkeit als Besamungstechnikerin in der Viehzucht ist nicht ganz das richtige für sie. Dann bietet sich die Lehre zur Betriebselektrikerin bei der Deutschen Reichsbahn an. Eine Betriebselektrikerin ist zuständig für die Steckdosen im Büro, die Verkabelung der Weichen, die Strom- und die Lichtmasten… – nur nicht für die Züge. Auf dem Schienenweg kann sie Neustrelitz nicht entkommen. Doch es geht immer weiter im Text: Mit Siebzehn wird sie schwanger. Als sie es merkt, ist der Vater des werdenden Kindes bereits im Westen. Sie beendet ihre Ausbildung trotzdem und nutzt die nächste Gelegenheit, mit ihrem Sohn in die Hauptstadt zu ziehen, wo der Rassismus nicht so offensichtlich ist. Berlin ist weltoffener, internationaler, lässiger, sie trifft Freigeister, Künstler, Chilenen und Kubaner. Arbeit findet sie als »Gebrauchswerberin«, was so etwas wie das ostdeutsche Pendant zur westdeutschen »Schauwerbegestalterin« ist: Sie gestaltet die Schaufenster in den Läden der ostdeutschen Vorzeigealleen, der Karl-Marx- und der Frankfurter Allee. Sie muss nicht in miefigen Fabriken sitzen und kann sich ihre Arbeitszeit selbst einteilen. Eigentlich geht es ihr gut. Dennoch stellt sie eines Tages den Ausreiseantrag. »Mein Sohn war auch so ein Freigeist. Er eckte überall an. Eine Kindheit in der DDR wäre eine Zumutung für ihn gewesen.« Ein wirkliches Ziel aber hat sie nicht, sie will nur raus und nimmt alle Schikanen in Kauf, muss den berüchtigten »Laufzettel« abarbeiten, ein einziger Hindernislauf durch die Bürokratie. Aber in jedem Behördenzimmer wächst die Sicherheit, dass ihre Entscheidung die richtige war. Eines Tages hat sie das ersehnte Papier in der Hand. »Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Genehmigte Ausreise innerhalb von 48 Stunden.« Doch es ist der 8. November des Jahres 1989. Schon in der nächsten Nacht wird die Grenze für alle DDR-Bürger geöffnet. Und während um sie herum Begeisterungsstürme ausbrechen und die Menschen zum Kurfürstendamm strömen, packt sie, mit der Spur eines Lächelns auf ihren Lippen, in aller Ruhe die Koffer und zieht zu Freunden nach Westberlin. Doch alleine mit dem Kind ist es im Westen nicht leichter als im Osten. Das überrascht sie nicht. Die Mär vom Goldenen Westen hat sie ohnehin nie geglaubt. »Ich glaube, drei Jahre nach dem Fall der Mauer war ich das erste Mal im KaDeWe«. Sie jobbt beim Messebau, kellnert, renoviert Wohnungen und arbeitet als Technische Zeichnerin für mehrere Architekten. Und schon bald sieht es aus, als könne sie eine durchschnittliche westbürgerliche Existenz führen. Doch dann kommt AutoCAD. Der Computer verdrängt das Zeichenbrett. Simone Barrientos ist zum ersten Mal arbeitslos. Sie bemüht sich beim Arbeitsamt um Computerkurse, doch niemand will ihre Weiterbildung bezahlen, sie habe keine Ausbildung zur Technischen Zeichnerin. Stattdessen bietet man ihr eine Umschulung zur Elektrikerin an. Aber als Elektrikerin ist sie schon damals nicht weitergekommen. Also beginnt sie wieder etwas Neues. Immer weiter geht es im Text. Sie arbeitet als Übersetzerin bei Radio Multikulti und begegnet Künstlern jeder Sprache und jeder Couleur. Plötzlich castet sie Schauspieler für Filmproduktionen, wird Aufnahmeleiterin in einer schwedischen Filmproduktion, die in Berlin Filme dreht. Und wieder überzeugt die Autodidaktin, obwohl sie »kein Wort Schwedisch« oder Englisch spricht. Sie wohnt in Friedrichshain, Moabit, Neukölln, zieht nach Wilmersdorf, und letztendlich – wenn es so etwas Finales überhaupt geben kann in diesem Leben – nach Kreuzberg. Dort laufen ihr zwei Künstler über den Weg: Der Lyriker Leander Sukov und der Musiker Sascha Mersch, die gerade ziemlich viele Projekte im Kopf haben, aber niemanden, der das alles organisieren könnte. Also übernimmt sie das Management für die Künstler, die durch die Kleinkunsttheater der Republik tingeln, musizieren und rezitieren. Aber was sind all diese schönen und obszönen Texte und Lieder ohne eine Frau? Also steigt auch sie auf die Bühne und bringt aus tiefsten Brüsten ihre rauchige Stimme ein in den Chor der Hedonisten. Es sieht aus, als wäre der Höhepunkt der seltsamen Karriere der Simone Barrientos erreicht. Doch »letztendlich« gibt es keine wirklichen Höhepunkte bei dieser Achterbahnfahrt. Immer weiter geht es im Text. 2008 kommt ihr die Idee mit dem Verlag. Sie möchte die poetischen Werke Leander Sukovs herausgeben, dann neue deutsche Literatur von Ekkes Frank bis Alban Nikolai Herbst; marxistische Philosophie von Robert Steigerwald und Werner Seppmann; und zunehmend auch die wiederentdeckte Literatur der DDR, die 1991 millionenfach in Braunkohlegruben entsorgt worden war. Das Verlagsprogramm der Kulturmaschinen ist bunt und vielfältig, nur eines ist es nie: Mainstream. Da die Banken der Unternehmerin keine Kredite geben, muss sich die Autodidaktin das Geld für ihr neues Unternehmen selbst verdienen. Noch nie hat jemand »einen Druckvorschuss zahlen müssen«. So sieht sie Vladimir, "ihr" Grafiker
Inzwischen ist der Schwächeanfall längst vergessen. Begeistert erzählt die Verlegerin von ihrem neuen Projekt: der Gesamtausgabe Franz Josef Degenhardts. Sie wird in ihrem Verlag erscheinen. Von den »Zündschnüren« bis zu den Liederbüchern. In einheitlichem Stil, gestaltet von »ihrem« Grafiker Vladi Krafft. Auch ihr Sohn, der Maler und Fotograf Robert Lange, arbeitet hin und wieder für den Verlag. Darauf ist sie stolz. Stolz ist sie auch darauf, dass Degenhardt bei der Suche nach einem Verlag auf ihre Kulturmaschinen gestoßen ist. Es scheint, als zahle sich ihre Beharrlichkeit und Geradlinigkeit letztendlich doch noch aus. Denn auch Degenhardt war so ein Freigeist, einer, der etwas gegen solche Geschichten hatte, die gar nicht passiert waren. Im Herbst wird Simone Barrientos im Rauschgold am Mehringdamm unter dem Slogan »Bücher und Eierlikör« ihr Verlagsprogramm vorstellen. Vielleicht wird sie neben all den frechen Liedern und Texten auch eine Zeile von Franz Josef Degenhardt zitieren. Vielleicht jene Zeile, die man auch über ihr Leben hätte setzen können: »…und es geht ja trotz allem weiter im Text…« • |