Juli 2011 - Ausgabe 129
Reportagen, Gespräche, Interviews
Multikulti is back von Erwin Tichatschek |
Eine Zeit lang war es still geworden um den ehemaligenHauptstadtsender Radio Multikulti, den einzigen, der die vielsprachigen Berliner rund um die Uhr mit vielsprachigen Programmen versorgte. Nach dem Entzug ihrer Sendefrequenz sendeten die überzeugten Radiomacher aus improvisiertenStudios, zu empfangen waren sie nur noch über das Internet. Seit Maivergangenen Jahres aber belegen sie – gemeinsam mit anderen Alternativenwie dem ALEX-Radio, dem Ohrfunk oder dem Colaboradio –die Ultrakurzwellenfrequenz 88,4. Und seit dem 28. März dieses Jahres ist multicult.fm zwischen 7 und 9 Uhr mit einem neuen Morgenmagazin wieder auf Sendung. Doch damit hat die idealistische Truppe, die sich 2008 um BrigittaGabrin, die ehemalige Moderatorin des Mittagsmagazins, scharte, nurein Etappenziel erreicht. Natürlich sollte ein »Weltkulturradio« rundum die Uhr und überall hörbar sein. Zumal die bunte Truppe jetzt ausdem Studio in der Kreuzberger Markthalle funkt und noch näher dranist am Geschehen und an ihren Zuhörern, als es Radio Multikulti jemöglich war. Das Studio von multicult.fm ist nur wenige Meter vom Geschehen entfernt, und die Gesprächspartner im Morgenmagazinmüssen nicht erst anreisen, um sich zur Einwanderungspolitik oder den Problemen von Neukölln oder Kreuzberg zu äußern. Die Gesprächspartnersind vor der Studiotür: Helmut Hahne von der Enoteca Bacco zum Beispiel, oder der Buchhändler von der KrimibuchhandlungHammett, der regelmäßig herüberkommt und das Buch des Monatsvorstellt. Oder Hans Hartmann, der Weltmusiker aus der Heimstraße, der bei Bacco seinen täglichen Kaffee trinkt. multicult.fm ist kein profitorientierter Sender, der seine Zuhörer willkürlich mit Sendungen bestrahlt. multicult.fm ist das erfolgreiche Produkt eines Dialoges zwischen Zuhörern und Radiomachern. Um zu erfahren, was die Griechen selbst über die Staatskrise in Griechenland denken, muss nicht gleich ein Journalistenteam nach Athen reisen. Es reicht, die Treppe zum Feinkostladen von Olga Pantos hinunter zu gehen, um zu erfahren, wie ein griechischer Markthändler über die Sache denkt. »Die Deutschen exportieren seit Jahrzehnten Elektronik und Autos nach Griechenland. Sogar deutsche Panzer haben wir gekauft. Das Geld, das uns die Deutschen leihen, kommt doch postwendend wieder zurück.« Aber nicht nur aus Griechenland, der Türkei oder Spanien eingereiste Kreuzberger kommen zu Wort, sondern auch die reiselustigen Urkreuzberger, die in den vergangenen fünfzig Jahren keine Möglichkeit ausließen, um nach Asien, auf die Kanaren oder nach Tanger zu fliegen. Kreuzberg ist nicht nur das Viertel internationaler Einwanderer, es war immer ein Studentenquartier mit ausgeprägtem kosmopolitischen. »Ich hatte als Kind in meinem Zimmer einen beleuchteten Globus«, sagt Jörg Podzuweit, einer der beiden Wortredakteure. »Mein Traum war immer, einmal auf die andere Seite zu kommen. Und nach der Schule, kaum hatte ich mit irgendeinem Job 5.000 Mark zusammengespart, bin ich losgefahren. Und wurde eine ganze Weile nicht mehr in Deutschland gesehen.« Es ist kein Zufall, wenn multicult.fm jeden Sonntag das »Reisefieber« sendet, und wenn Clemens Grün, der Manager der Kultband Fanfare Kalaschnikow und Musikredakteur bei multicult.fm, zuerst »barfuß durch Indien gelaufen« ist, ein »Schaf in Irland und ein eigenes Radioprogramm am Amazonas« hatte, bevor er nach Kreuzberg kam. Damit ist das Radio aus Kreuzberg seinem erklärten Ziel, »Lokales und Globales miteinander zu verbinden«, ein gutes Stück näher gekommen. Auch wenn diese Verbindung hin und wieder abbricht. Denn so ein Radio unbezahlter Idealisten ist anfällig für technische Störungen aller Art. Manchmal sind es Hobbytechniker wie Rachel Kenesei, eine Musikerin aus Budapest, die eigentlich nur einen Sommer in Berlin verbringen wollte, und die dann bei einem Störfall nachdenklich vor den vielen miteinander verkabelten Apparaturen des Studios stand und plötzlich sagte: »Zuerst verbindet ihr diesen Kasten mit dem da. Dann das Kabel dort hinein, dann den roten Stöpsel hier… – und dann probiert‘s noch mal.« Wäre sie nicht zufällig im Studio gewesen, dann hätte es – so wie auch am 15. Juni zwischen 7 und 9 – eine absolute Funkstille auf 88,4 gegeben. Das klingt vielleicht »unprofessionell«, ist aber sympathischer als der übliche Perfektionismus beim Radio. Jörg Podzuweit, der früher für das Deutschlandradio und den RBB arbeitete, hält das Chaos bei multicult.fm für kreativ. »Wir sind ein Club von Individualisten. Manchmal glaubt man, die werden sich gleich duellieren, aber am Ende raufen sich alle wieder zusammen«. Das Gute an den Auseinandersetzungen ist, dass jeder von diesen Leuten etwas einbringt, dass dieses Radio mit seinen unterschiedlichen Zuhörern und seinen eigensinnigen Radiomachern einem ständigen und natürlichen Wachstumsprozess unterworfen ist. Honoriert wird das Projekt bislang jedoch nur mit dem Lob der Zuhörer. Ihr Geld verdienen die alternativen Funker in Bars und Kneipen, in der Werbebranche oder in Musikschulen. Oder sie räumen bei Saturn Regale ein. Etwa zwanzig gehören zum harten Kern, unterstützt von einem weiten Freundeskreis und Leuten, die ihre Sendungen im heimischen Studio oder am Computer produzieren. Nicht alle haben Radio-Erfahrung mitgebracht. Rachel Kenesei ist im Internet zufällig auf den Berliner Radiosender gestoßen. Sie rief an und fragte, ob sie nicht kommen und mitmachen könne, sie wolle ohnehin einen Sommer in Berlin verbringen. Sie absolvierte einen dreitägigen Crashkurs in Sachen Radio und ist inzwischen so etwas wie das Mädchen für alles und ein Ruhepol im wuseligen Radiobetrieb. Sie steht als Assistentin neben der Moderatorin, springt ein, wenn die Sprecherin vergisst, den Regler hochzuschieben und die Musik einzuspielen, oder sie schaut auf die Zeiger der Uhr und kümmert sich um den Sound. Manchmal tritt sie als Gast in der Sendung »So German« auf und spricht über ihre ersten Eindrücke von der Stadt, in der »alle viereckige Sonnenbrillen tragen«, bei »Rot an der Ampel stehen bleiben«, und in der es eine ziemlich ausgeprägte »Faszination für FKK« gibt. An jedem Wasserloch, im Tiergarten, »mitten in der Stadt«, überall könne man plötzlich auf Nackte treffen. Das sei schon etwas, an das man sich »erst einmal gewöhnen muss«, wenn man gerade aus Budapest kommt. Doch nicht alle diese Mitarbeiter sind als »Geschenk vom Himmel« gefallen. Ein radiojournalistisches Urgestein, das seit vielen Jahren am Funkhimmel über Berlin unterwegs ist, heißt Wolfgang König. König, der einst bei Radio Brandenburg und später bei Multikulti arbeitete, ist einer der leitenden Musikredakteure des »Weltkulturradios frisch vom Markt«. Samstags zwischen 10 und 12 Uhr moderiert er eine der wenigen Sendungen, die schon 1994 bei Radio Multikulti liefen: das Café Olé. Ebenfalls längst über die Grenzen Kreuzbergs hinaus bekannt ist »Tango Globale« mit Fernando Miceli , der an jedem 2. Sonntag um 18 Uhr die westeuropäische Hauptstadt des Tangos mit Tanzrhythmen versorgt. Auch die »CD der Woche«, »frischgepresst« wie ein Orangensaft vom Markt, hat längst ihre Fans. Es hat sich rumgesprochen, dass multicult. fm wieder am Start ist, und während die Radiomacher anfangs noch nach Gesprächspartnern und Themen suchen mussten, müssen sie jetzt bereits aussortieren und ablehnen. »Immer mehr Leute bieten uns Themen an. Das ist gut. Es beweist, dass wir Zuhörer gewonnen haben, seit wir aus der Halle senden«, sagt Jörg Podzuweit. Wie viele tatsächlich einschalten, wenn multicult.fm um 7 Uhr morgens auf Ultrakurzwelle an den Start geht, und wie viele die über den Tag verteilten Sendungen auf ihren Laptops oder I-pods verfolgen, ist schwer zu sagen. Statistische Erhebungen wie bei kommerziellen Sendern, die im Auftrag ihrer Werbekunden die Einschaltquoten ermitteln, gibt es auf 88,4 ebenso wenig wie nervende Jingles von Bau- und Mediamärkten. Was es aber bald geben könnte, ist ein Morgenmagazin für Langschläfer. Denn damit das frühe Morgenmagazin oder das späte Nachtprogramm auch für Nachtwandler hörbar ist, sollen die beliebtesten Sendungen künftig auch Tage später noch im Netz abrufbar sein. »Die Zukunft«, das wissen die Radiomacher, »liegt im Internetradio. Eines Tages wird niemand mehr wissen, was UKW ist. Aber es weiß niemand, wann das sein wird.« Und bis dahin muss multikult.fm eben in der ätherischen Umlaufbahn bleiben – auf 88,4. • |