Juli 2011 - Ausgabe 129
Mein liebster Feind
Zweiter Brief von Katja Neumann |
Lieber Kajo! Ich bin sicher, dass die Leser der letzten Ausgabe Dir schmunzelnd beigepflichtet haben. Es ist tatsächlich eine Ironie der Geschichte, wenn sich heute die gealterten Alternativen aus Kreuzberg über Partys auf der Straße oder der Brücke aufregen und in ihrer Nachtruhe gestört fühlen, und wenn sie sich über Straßenfeste ärgern, die sie selbst in den Siebzigerjahren aus der Taufe hoben und mit denen sie erheblich zum Mythos Kreuzberg beitrugen. Sie waren es, die diese vom Krieg gezeichnete Stadt mit ihren Brachen und Brandmauern besetzten, die den Ruinen neues Leben einhauchten, mitten in einem noch spießigen Nachkriegsdeutschland eine kleine Insel der Freiheit, fast schon ein Stückchen Anarchie verwirklichten. Es ist schade, wenn sich ausgerechnet diese Leute heute über Touristen und junge Leute beschweren, die jetzt Kreuzbergs Straßen bevölkern, und wenn deren Kommentare »wie die Empörung eines schwäbischen Dorfbewohners über ein Punkkonzert in den 80er Jahren« klingen – wie Du so schön zitiert hast. Das sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass diejenigen, die am lautesten meckern, noch immer die Schwaben – also die Zugereisten – sind. Und zwar die in jüngster Zeit Zugereisten, die mit ihren spießigen Ansichten, dem Auto von Papi und dem Sparbuch von Omi aus Bielefeld und Osnabrück nach Berlin kommen und sich nicht in eine Ruine, sondern in ein gemachtes Nest setzten. Sie kommen hierher, kaufen sich im Fichtebunker ein und protestieren zuerst einmal gegen den Fußballplatz, weil der ihnen zu laut ist. Sie kaufen sich eine Eigentumswohnung neben dem Wasserturm, der seit zwanzig Jahren ein Jugendclub ist, und beschweren sich über das Kindergeschrei. Sie ziehen über einer Kneipe ein, in der sich seit fünfzig Jahren der halbe Kiez trifft, und rufen pünktlich um zehn die Polizei. Sie versammeln sich in der Kanzlei des Rechtsanwalts Helmut Niggemann, der darüber aufklärt, was man gegen „lärmende Nachbarn, Fernseher, Computer, Schreie (spielende Kinder)“ unternehmen kann. Dass Menschen, wenn sie müde werden, schlafen möchten, ist ebenso menschlich wie die Lust aufs Vögeln in Goa oder Baden auf Kreta. Das verbindet die jungen Schwaben mit den alternden Kreuzbergern. Es gibt aber – und das hat nichts mit dem von Dir herbeizitierten »Fremdenhass« zu tun – einen entscheidenden Unterschied zwischen den alten Kreuzbergern und den Neuankömmlingen: Diejenigen, die heute kommen, wären nie in eine Wohnung mit Außentoilette und Ofenheizung gezogen – nur, weil es hier so etwas wie Freiheit gab. Einen Raum, in dem sich etwas Neues entwickeln konnte. Und tatsächlich auch entwickelt hat! Sie kamen, weil Kreuzberg eine Alternative war. Sie brachten einen Lebensentwurf mit, eine Philosophie. Die, die heute kommen, bringen nur noch Geld mit. • Katja Neumann |