Dez. 2011/Jan. 2012 - Ausgabe 133
Strassen, Häuser, Höfe
Die Liebfrauenkirche von Werner von Westhafen |
Sie ist eine echte Kreuzbergerin. In der Abgeschiedenheit ihres Hofes hat sie zwei Kriege fast unversehrt überstanden. Henry Bethel Strousbergs neue Eisenbahnverbindung nach Görlitz und Schlesien brachte immer mehr Menschen aus dem katholischen Osten nach Berlin. Die Hausbesitzer in der Nähe des Görlitzer Bahnhofs waren die ersten, die aus dem Zustrom Kapital schlugen, indem sie anbauten: Schmale, sich in die einstigen Gärten ausdehnende, oft durch mehrere hintereinander liegende Höfe getrennte Gartenhäuser, Seitenflügel und Quergebäude, die später als Mietskasernen berühmt und berüchtigt wurden. Dennoch waren die Berliner auf die vielen Zuwanderer nicht gut zu sprechen. Es half den Fremden wenig, dass sie gläubige Katholiken und gute Arbeiter waren, denn die Preußen hielten ohnehin zu den Lutheranern. Während in der Vergangenheit die Berliner Regenten den einwandernden Hugenotten oder Böhmen Land zum Bau von Kirchen und Kirchhöfen schenkten, kümmerte die preußischen Staatsoberhäupter das Schicksal der katholischen Zuwanderer nur wenig, und auch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es für 200.000 Katholiken in der Stadt lediglich zwei Kirchen. Eine davon war die SanktMichael-Kirche vor dem Engelbecken im heutigen Kreuzberg. Schon sprach man von der »Berliner Kirchennot«, als sich 1898 die Sankt Marien Gemeinde von der Sankt-Michael-Gemeinde abspaltete. Um dem Ansturm der Herden vor der Kirchentür Herr zu werden, hatte man beschlossen, eine eigene Gemeinde mit eigener Kirche einzurichten. Zunächst mussten sich die Gläubigen mit Notunterkünften begnügen. Aus den Archiven ist zu entnehmen, dass die neue Gemeinde zunächst in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs in einer Kapelle des St. Marien-Krankenhauses ihre Gottesdienste verrichtete, das von katholischen Einwanderinnen aus Breslau errichtet worden war. Andere Quellen allerdings weisen auf ein Weißbierlokal in der Lausitzer Straße hin, in dem die Katholiken sonntags beteten. Die Weihnachtsmesse des Jahres 1898 allerdings konnte die Gemeinde bereits in einer großen, aus Fachwerk errichteten und mit einem hölzernen Glockenturm versehenen Notkirche in der Wrangelstraße abhalten. Der Pfarrer freilich wollte ein steinernes Gotteshaus und verschickte Bittbriefe in alle Himmelsrichtungen, in denen er von 16.000 Gemeindemitgliedern schreibt, »unter denen nur 25 Personen sind, die über 100 Mark« Steuern zahlen. Dennoch habe diese »arme Arbeitergemeinde im letzten Jahre ca. 12.000 Mark« für den Bau einer neuen Kirche gespendet, »also die Berliner selbst thun auch schon etwas für ihre Sache.« Doch sieben weitere Jahre gingen ins Land, bis sich endlich ein reicher Architekt aus Wiesbaden erbarmte und der Gemeinde des Pfarrers Jeder eine halbe Million vermachte. Als Baumeister für das neue Obdach der heimatlosen Gemeinde schlug der Architekt einen Kollegen aus dem Nachbarstädtchen Mainz vor: den späteren Dombaumeister Ludwig Becker. Becker war gerade gut im Geschäft, die Foto: Dieter Peters
Kreuzberger Kirche war bereits sein 50. Bauwerk. Am Ende seines Lebens hat der umtriebige Baumeister über 300 Kirchen erbaut oder restauriert, in Straßburg, Metz und Chicago hinterließ er Kirchtürme und Kirchenschiffe. Auch in Kreuzberg ließ sich der Mann mit dem Hang zur Größe von der Enge zwischen den Häusern mit der Nummer 49 und 52 nicht einschüchtern und plante, als stünde er auf freiem Felde. So kommt es, dass sich noch heute, völlig überraschend, zwischen der »langweiligen Häuserreihe« der Wrangelstraße eine »märchenhafte Kirche« verbirgt, eine aus Natursteinquadern erbaute Burg mit zwei hohen Türmen, Wohnflügeln, Pyramidendächern, einem gewaltigen Portal und einem plätschernden Brunnen im tiefen, von Arkaden gesäumten Hof. Die Liebfrauenkirche ist eine Festung der Stille, ein Stück Romantik in der lauten Realität der Wrangelstraße. Pfarrer Jeder und Baumeister Becker haben an nichts gespart: Die Kirche mit ihren drei langen Schiffen und ihrer domartigen Kuppel ist eine der schönsten Berlins. Für die Ausstattung engagierte das Paar den Kunsthandwerker Teophile Klem aus Colmar. Er schuf den Altar, die Beichtstühle, die Kanzel, die Ornamente. Er schmiedete, vergoldete und malte. Als am 16. August 1905 die Kirche eingeweiht wurde, schrieb die Märkische Volkszeitung vom »herrlichsten Bauwerke im Südosten der Reichshauptstadt« und beschreibt eine »andächtig« in »tiefes Schweigen« versunkene Menschenmasse, die sich an einem »herrlichen Sommertag… am Straßenrande« versammelt hat. Der sozialdemokratische Vorwärts dagegen spottet, dass schon die kleine Notkirche nur »selten voll« gewesen sei, und dass »bei der stattlichen Größe« dieses Bauwerks es künftig noch deutlicher werden müsse, »wie wenig Leute in diesem Stadtteil nach Kirche und Pfarrer verlangen.« Die Kirche erfreute sich dennoch einiger Beliebtheit, auch nach dem Krieg noch kamen an Sonntagen 3000 Gläubige in die Wrangelstraße zum Gottesdienst. Die Bomben hatten die zwischen den Häusern versteckte Kirche weitgehend geschont. Das Kuppeldach, der Altar und andere Einrichtungen mussten erneuert werden, und auch der »phantastisch schöne« Kronleuchter verschwand, doch sind der Liebfrauenkirche noch sämtliche Beichtstühle, die Opferstöcke, die Sedilien und das komplette liturgische Gerät erhalten geblieben. Selbst die Kanontafeln sind noch die hölzernen Originale von Klem und Becker. Am wertvollsten aber ist die Stille dieses Ortes, die bis heute erhalten ist, und während vor dem Dom und anderen Berliner Kirchen längst die Reisebusse vorrollen, sitzt an einem Mittwoch im November unter der großen Kuppel der Liebfrauenkirche nur eine Frau mit einem winzigen Baby auf dem Arm – und betet. • |